Vielheiten des Anfangens und Endens statt Einheit mit ihren Problemen von Anfang, Ende und Unendlichkeit
Es gibt keinen Ursprung; es gibt Vielheiten des Anfang(en)s. Damit wird weder die Umtauschrelation eines Chiasmus, d.h. das Schweben, die Unentschiedenheit und Unentscheidbarkeit ausgezeichnet, noch die Ordnungsrelation, d.h. die Hierarchie, die Genealogie geleugnet. „Vielheiten des Anfangens“ zeichnet auch nicht eine Hierarchie in ihrer eigenen Vielheit aus. Es kann auch nicht verlangt werden, dass die Problematik des Anfangs und des Anfangens paradoxienfrei formulierbar ist.
Die wesentliche Einsicht in die Möglichkeit einer Vielheit arithmetischer Systeme besteht darin, dass von den Zahlen als Objekten abstrahiert wird, wenn die Sprechweise von Anfängen und Enden eingeführt werden soll. Es ist ja nicht irgendeine der natürlichen Zahlen ein Anfang oder ein Ende. Weder die Eins noch Aleph. Diese Würde kommt den Zahlen nicht zu. Dass sich die Griechen mit dem Anfang der Zahlen schwer getan haben, bezeugt, dass sie Mathematik betrieben haben und nicht Rechenkunst. Für die Griechen gab es keine Null und auch die Eins war keine Zahl, sondern das Mass der Zahlen. Die griechische Mathematik hat sich dann mit dem Anfang und dem Ende als Unendlichkeit beschäftigt und damit die Tradition der Unterscheidung von Endlichkeit/Unendlichkeit der Zahlen in Gang gesetzt. Der Gegensatz zum Anfang ist jedoch nicht das Unendliche, sondern das Ende. Anfang und Ende bestimmen somit die Natürlichen Zahlen. Und dies gilt noch vor der Unterscheidung der Zahlen in Gerade und Ungerade. Die dialektische bzw. polykontexturale Zahlentheorie, wie sie von Hegel und Günther angedacht wurde, kann verstanden werden als eine weitere Abstraktion, weg von den arithmetischen Objekten, seien sie nun gerade oder ungerade Zahlen, hin zur Prozessualität von Anfang und Ende und somit zu einer neuen Epoche des Mathematischen (Heidegger). Die Unterscheidung von Anfang/Ende wiederum wäre gänzlich unsinnig, würde sie isoliert betrachtet und auf eine einzige Arithmetik hin objektiviert werden. Es gibt in der Arithmetik für die Zahlen als Zahlobjekte keine letzte Zahl, die als Ende ausgezeichnet werden könnte. Es gibt keine Endzahl. Die Unterscheidung von Anfang und Ende ist nur sinnvoll, wenn sie chiastisch verstanden wird, d.h., wenn die Möglichkeit einer Vielheit von Anfängen und einer Vielheit von Enden eingeräumt wird. Postuliert wird eine Vielheit von Zahlensystemen und zwischen diesen gilt die Unterscheidung von Anfang und Ende. Was in der einen Zahlenreihe ein Ende ist, ist in der anderen Zahlenreihe ein Anfang. Anfang und Ende sind prozessuale Bestimmungen zwischen Arithmetiken, sie sind inter- und trans-arithmetisch charakterisiert. Es gibt somit auch nicht den ausgezeichneten Anfang, sondern Anfänge. Es gibt keinen Ursprung, sondern Vielheiten des Anfangens und Vielheiten des Endens.
Aus: Rudolf Kaehr, "Zur Verstörung des (H)ortes der Zerstörung", S.19-20