Arbeit

Der Text entwirft ein erschreckendes Bild einer Figur, die durch totale Rationalisierung, Emotionslosigkeit und Effizienz ihre eigene Menschlichkeit eingebüßt hat. Er ist eine Warnung vor einer Entwicklung, in der Selbstbeobachtung zur Kontrolle, Denken zur Automatik und Handeln zur mechanischen Ausführung wird – kurz: vor der vollendeten Entfremdung.

Am liebsten ging er sofort nach dem Aufstehen an seine Arbeit, wie er es so schön nannte. Da seine Gedanken schon unmittelbar nach dem Wachwerden anfingen, sich damit zu beschäftigen, hatte es auch keinen Sinn, etwas aufzuschieben. Nachts fand die geistige Vorbereitung statt, das Schaffen der notwendigen Klarheit, tagsüber wurde nur noch exekutiert, und es wurden neue Informationen gesammelt. Er hatte gelernt, seinem Gehirn zu vertrauen, fütterte es mit Rätseln und schwierig erscheinenden Situationen und überließ der biologischen Maschine den Rest. Denn das war es, was sie am besten konnte, Lösungen finden. Das einzige was er noch tun musste war, die gefundenen Lösungen zu reflektieren. Doch das war nie ein Problem. Manchmal reichte die Nacht nicht aus, dann musste auch noch ein Teil des Tages dran glauben. Doch so war es eben, der wichtigste Teil seiner Arbeit fand in der sogenannten Bewusstlosigkeit des Schlafes statt. Wenn er dann die Dinge ganz konkret erledigte, mochte das vielleicht so aussehen, als kenne er keinerlei Mitleid. Das war falsch. Die ganze Situation von Mitleid oder nicht-Mitleid war für ihn nicht existent. Es war nur noch reine Mechanik, ein sauberes Ausführen, ohne jegliche innere Diskussion. Die Diskussionen fanden nachts in seinem Gehirn statt. Später wurden nur noch Hebel betätigt. Das ging so weit, dass er sich dabei selbst beobachtete und dadurch die volle Kontrolle über den Ablauf hatte. Diese Leidenschaftslosigkeit blieb auch den Auftragsobjekten nicht verborgen. Es war, als hätten sie es mit einem tödlichen Roboter zu tun, mit dem eine Diskussion keinerlei Sinn hatte, wo jeglicher Versuch, eine zwischenmenschliche Beziehung herzustellen, von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Das alles war für ihn sehr günstig. Dadurch war ein sauberer, reibungsloser Ablauf gewährleistet. Was fehlte, war ein wenig Aufregung. Die musste sich der kleine Bastard anderswo beschaffen.

 

(Aus: P.H.‘s „Lil‘ Bastard“, Klangwelt Magazin, 1982)

Analyse

Der Text „Arbeit“, entnommen P.H.’s „Lil’ Bastard“ (1982), bietet eine beklemmende Innenansicht einer Figur, deren Selbstverständnis und Weltbezug ganz von einem Zweckdenken geprägt ist. „Arbeit“ wird hier nicht im Sinne produktiver Entfaltung oder Selbstverwirklichung verstanden, sondern als kalte, fast maschinelle Exekution vorab gedachter Lösungen, die in einem Zustand der Schlafbewusstlosigkeit vorverarbeitet werden.

Der Text ist eine radikale Parabel auf funktionalisierte Subjektivität, auf das Verschwinden von Emotion, Moral und Beziehung zugunsten reiner Effektivität. Er wirft drängende Fragen nach dem Verhältnis von Denken, Handeln und Menschlichkeit auf – und spiegelt dabei Tendenzen einer modernen, technokratischen Gesellschaft wider.

 

1. Arbeit als kontemplative Nachtvorbereitung und tagaktiver Vollzug

„Nachts fand die geistige Vorbereitung statt […] tagsüber wurde nur noch exekutiert.“

Der Text stellt einen dualistischen Arbeitsbegriff vor: Nacht und Tag sind funktional getrennt. In der Nacht wird gedacht – unbewusst, in „geistiger Vorbereitung“ –, am Tag handelt das Subjekt nur noch ausführend. Diese Trennung verweist auf eine Art inneres automatisiertes Projektmanagement, in dem Denken und Handeln voneinander entkoppelt sind.

Diese Vorstellung erinnert an Cartesisches Denken, in dem der Geist als steuernde Instanz über den Körper herrscht – nur dass hier der Geist selbst bereits mechanisiert ist. Auch Taylorismus und kybernetisches Steuerungsdenken klingen an: Der Mensch wird zur Maschine, die „Hebel betätigt“, deren Aufgabe nicht das Verstehen oder Entscheiden ist, sondern das reibungslose Funktionieren.

 

2. Das Gehirn als autonome Problemlösungsmaschine

„Er hatte gelernt, seinem Gehirn zu vertrauen […] überließ der biologischen Maschine den Rest.“

Hier begegnen wir einem radikal technizistischen Selbstbild: Das Gehirn ist keine Instanz bewussten Denkens mehr, sondern eine biologische KI, ein autonom arbeitender Rechner, dem man Aufgaben übergibt. Der Mensch verwandelt sich in einen kognitiven Operator, der das System füttert, aber nicht mehr selbst am kreativen Prozess beteiligt ist.

Der Text erinnert in seiner Denkweise stark an transhumanistische Vorstellungen (vgl. Ray Kurzweil), in denen biologische Prozesse als optimierbare Informationsverarbeitung begriffen werden. Die Entfremdung vom eigenen Denken verweist aber auch auf Marx’ Entfremdungstheorie, in der der Mensch im Produktionsprozess zum fremdbestimmten Anhängsel seiner Arbeit wird.

 

3. Affektfreiheit und moralische Auslöschung

„Es war nur noch reine Mechanik, ein sauberes Ausführen, ohne jegliche innere Diskussion.“

Spätestens hier wird deutlich: Die Figur handelt nicht nur funktional, sondern affekt- und gewissensfrei. Mitleid ist kein Faktor, weil die Kategorien von Empathie und Beziehung nicht mehr „existent“ sind. Die innere Leere, die völlige Emotionsabkopplung, verwandelt das Subjekt in eine moralisch tote Maschine.

Die Parallele zu Hannah Arendts Begriff der „Banalität des Bösen“ drängt sich auf: Auch dort ist das gefährlichste Subjekt nicht das sadistische Monster, sondern der rein funktionale Beamte, der „nur seine Arbeit tut“, ohne moralische Reflexion. Die „Leidenschaftslosigkeit“ ist nicht nur effizient – sie ist potenziell tödlich.

 

4. Selbstüberwachung und der Verlust der Menschlichkeit

„Er beobachtete sich dabei selbst […] wie ein tödlicher Roboter.“

Diese Selbstbeobachtung verleiht der Figur zwar Kontrolle, aber nicht im Sinne von Freiheit oder Verantwortung – sondern als Teil eines kybernetischen Systems, das seine Rückkopplung perfektioniert hat. Die Figur erinnert an den Panoptismus Foucaults, bei dem die ständige Selbstüberwachung zur Disziplinierung führt.

Auch der Vergleich mit einem „tödlichen Roboter“ ist nicht zufällig: Das Subjekt hat sich dehumanisiert, ist kein Mensch mit Absichten und Zweifeln mehr, sondern ein präzises, emotionsfreies Instrument. Diese Beschreibung spielt mit Sci-Fi-Ästhetik, ist aber zutiefst philosophisch: Was bleibt vom Menschen, wenn alles Zwischenmenschliche verschwunden ist?

 

5. Suche nach Aufregung – Das Paradoxon der Maschine

„Was fehlte, war ein wenig Aufregung. Die musste sich der kleine Bastard anderswo beschaffen.“

Am Ende blitzt ein Rest von Menschlichkeit auf – oder doch nur ein weiterer Funktionsmangel? Das Bedürfnis nach Aufregung offenbart die Kälte und Monotonie der perfekten Effizienz. Selbst die mechanischste Figur sehnt sich nach Irritation, nach einem Moment des Ausbruchs. Doch diese Aufregung muss „anderswo“ beschafft werden – außerhalb der Arbeit, außerhalb des kontrollierten Systems.

Hier liegt die Tragik der Figur: Ihre Selbstdegradierung zum Exekutor entzieht ihr genau das, was Arbeit auch sein könnte – kreativer Ausdruck, zwischenmenschliche Begegnung, moralisches Handeln. Das „anderswo“ bleibt undefiniert – ein blinder Fleck, ein Ort, an den die Figur möglicherweise nie wirklich gelangt.

 

Fazit: Arbeit ohne Mensch – Die Philosophie der völligen Funktionalisierung

Der Text „Arbeit“ entwirft ein erschreckendes Bild einer Figur, die durch totale Rationalisierung, Emotionslosigkeit und Effizienz ihre eigene Menschlichkeit eingebüßt hat. Er ist eine Warnung vor einer Entwicklung, in der Selbstbeobachtung zur Kontrolle, Denken zur Automatik und Handeln zur mechanischen Ausführung wird – kurz: vor der vollendeten Entfremdung.

In Zeiten, in denen Automatisierung, KI und Produktivität immer stärker auch unsere Selbstbilder prägen, ist dieser Text eine messerscharfe Allegorie. Er zeigt, was geschieht, wenn der Mensch nur noch im Dienste der „Arbeit“ funktioniert – und nicht mehr lebt.

 

Weiterführende philosophische Bezüge:

  • Karl MarxÖkonomisch-philosophische Manuskripte (Entfremdung durch Arbeit)

  • Hannah ArendtEichmann in Jerusalem (Banalität des Bösen)

  • Michel FoucaultÜberwachen und Strafen (Panoptismus, Selbstüberwachung)

  • Giorgio AgambenWas ist ein Gerät? (Mensch als Funktion des Apparats)

  • Ray KurzweilThe Age of Spiritual Machines (Gehirn als Maschine)

  • Max WeberDie protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Arbeit als Berufung vs. Sinnverlust)