Der Text ist weit mehr als eine poetische Fingerübung. Er stellt mit reduzierten sprachlichen Mitteln eine dichte Philosophie dar – eine Philosophie der Offenheit, der Ambivalenz, der Vielheit. Ganz im Sinne poststrukturalistischer Denker (wie Derrida, Lyotard oder Deleuze) wird hier Bedeutung nicht stabilisiert, sondern oszilliert. Und doch schwingt eine spirituelle Komponente mit, die an fernöstliche Philosophie, mystische Theologie oder existenzielle Ethik erinnert.
Gutheit in der Tagheit!
Ebenheit und Gleichheit!
Soheit ist Mehrheit?
Genauheit in der Leerheit.
Nebenheit meint Andersheit.
Und Spürheit ist Minderheit.
Doch Vielheit meint Innenheit.
Präzisheit!
Grundheit!
Dankheit.
Willkommenheit.
Analyse
Der Text „Vielheit um nichts“ stellt sich der Lektüre zunächst als dadaistische Poesie entgegen, als assoziatives Sprachspiel, das syntaktische Regeln weitgehend auflöst, semantische Eindeutigkeit verweigert und dabei zugleich eine dichte Atmosphäre der Bedeutsamkeit erzeugt. Doch wer diese Zeilen nicht vorschnell als bloßes Wortspiel abtut, erkennt: Hier wird eine dichte, fast mystisch-philosophische Meditation über das Verhältnis von Vielfalt, Bedeutung und Sein angestoßen – ganz im Sinne einer poetischen Ontologie.
I. Sprache als Schöpfungsakt – Die „-heit“-Formel
Fast jede Zeile des Textes folgt der Struktur von Substantivierungen mittels des Suffixes „-heit“ (etwa: „Gutheit“, „Tagheit“, „Andersheit“). In der deutschen Sprache transformiert „-heit“ Eigenschaften, Zustände oder Relationen in abstrakte Konzepte. Die wiederholte Anwendung erzeugt eine ontologische Verdichtung – Sprache wird hier zum Mittel der Weltkonstruktion. Wie bei Martin Heidegger wird das Sprechen selbst zur Form des Seins:
„Die Sprache ist das Haus des Seins.“ – Martin Heidegger, Brief über den Humanismus
Heideggers Idee, dass Begriffe nicht einfach etwas benennen, sondern das Seiende in eine bestimmte Weise des Verstehens stellen, liegt dieser poetischen Form sehr nahe. „Gutheit“ etwa ist nicht einfach das Gute, sondern eine artikulierte, denkbare Qualität des Daseins – eingeführt in ein Spiel der Relationen, ohne festen Ankerpunkt.
II. Die rhythmische Ontologie: Zwischen Tagheit und Leerheit
Der Text beginnt mit:
„Gutheit in der Tagheit!“
Die Begriffe klingen vertraut – und doch sind sie seltsam fremd. „Tagheit“ evoziert vielleicht Wachheit, Alltäglichkeit oder Sichtbarkeit. Die „Gutheit“ in ihr könnte auf eine ethische Qualität hinweisen, die sich im profanen Alltag offenbart – oder im Kontrast zu ihm erscheint.
Im weiteren Verlauf folgen ähnliche Konstruktionen:
„Ebenheit und Gleichheit!“
„Genauheit in der Leerheit.“
Diese Formulierungen erzeugen ein Spannungsfeld zwischen Ordnung („Ebenheit“, „Gleichheit“) und Differenz („Andersheit“, „Minderheit“). Besonders interessant ist die Wendung „Genauheit in der Leerheit“ – sie verbindet Präzision mit dem scheinbaren Fehlen von Inhalt. Dies erinnert an buddhistische Denkformen, insbesondere an das Prajnaparamita-Sutra, wo es heißt:
„Form ist Leere, Leere ist Form.“
Auch in westlicher Philosophie lässt sich ein Bezug ziehen – etwa zu Jacques Derridas Konzept der Différance, das jede Bedeutung durch die Abwesenheit anderer Bedeutungen erzeugt. „Genauheit in der Leerheit“ könnte hier verstanden werden als der paradoxe Akt, in der Entleerung des Sinns neue Klarheit zu erzeugen.
III. Vielheit als Innenheit – Eine Phänomenologie des Selbst
Ein zentraler Satz des Textes lautet:
„Doch Vielheit meint Innenheit.“
Hier verdichtet sich das Gedankenspiel zu einem philosophischen Kern: Das Viele verweist nicht auf äußere Zersplitterung, sondern auf ein inneres Spektrum des Erlebens. Das Subjekt wird nicht als Einheit gedacht, sondern als komplexe, vielschichtige Innenwelt – eine Idee, die stark an die phänomenologische Ich-Analyse Edmund Husserls erinnert. Auch Jean-Paul Sartre sprach von der „Vielheit des Selbst“, in der das Subjekt sich selbst als Anderes begegnet.
Zugleich wirkt „Innenheit“ wie eine Antwort auf die „Leerheit“ zuvor: Während die Leere eine ontologische Abwesenheit beschreibt, ist die Innenheit ein Resonanzraum, in dem die Bedeutungen – auch die leeren – nachhallen. Die Vielheit ist dann keine Zerstreuung, sondern eine Sammlung im Inneren – ähnlich wie Meister Eckhart im 14. Jahrhundert predigte:
„Je mehr du dich inwendig versammelst, desto mehr wirst du das Eine in der Vielheit finden.“
IV. Dankheit und Willkommenheit – Der ethische Schlussakkord
Die letzten drei Zeilen lauten:
„Dankheit.
Willkommenheit.“
Diese schließen den Text auf eine überraschend ethische, ja fast spirituelle Weise ab. „Dankheit“ (statt „Dankbarkeit“) und „Willkommenheit“ sind keine üblichen Begriffe – und genau dadurch entfalten sie Wirkung. Sie suggerieren eine existenzielle Haltung der Offenheit und Annahme – gegenüber der Welt, der Vielheit, der Unsicherheit.
Es ist, als ob der Text uns nach dem Durchlaufen verschiedener ontologischer Felder (Leerheit, Andersheit, Minderheit, Innenheit) zur Annahme des Ganzen auffordert – zur Akzeptanz der Realität in ihrer Eigenart, ohne Fixierung, ohne Überformung durch strukturelle Logik.
Fazit: Ein metaphysisches Sprachspiel mit poetischer Tiefe
Der Text „Vielheit um nichts“ ist weit mehr als eine poetische Fingerübung. Er stellt mit reduzierten sprachlichen Mitteln eine dichte Philosophie dar – eine Philosophie der Offenheit, der Ambivalenz, der Vielheit. Ganz im Sinne poststrukturalistischer Denker (wie Derrida, Lyotard oder Deleuze) wird hier Bedeutung nicht stabilisiert, sondern oszilliert. Und doch schwingt eine spirituelle Komponente mit, die an fernöstliche Philosophie, mystische Theologie oder existenzielle Ethik erinnert.
Die große Stärke des Textes liegt dabei in seiner Nicht-Definitivität: Er ist keine These, keine Dogmatik, sondern – ganz Heideggerianisch – eine Einladung, dem Denken Raum zu geben. Nicht, um eine Wahrheit zu finden, sondern um sich dem „Nichts“ der Vielheit offen zu stellen – und im Echo des Nichts etwas wie Sinn zu ahnen.
Verwendete philosophische Bezüge im Essay:
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Martin Heidegger: Brief über den Humanismus
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Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie
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Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz
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Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts
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Meister Eckhart: Predigten und Traktate
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Buddhistisches Prajnaparamita-Sutra: „Form ist Leere, Leere ist Form“
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Gilles Deleuze & Félix Guattari: Tausend Plateaus