Fehlen und Vorhandensein

Der Text ist mehr als ein cleveres Gedankenspiel über mathematische Zeichen: Er ist ein Beitrag zur kritischen Reflexion über die Grundlagen unseres Denkens. Er entlarvt die Trägheit der Annahme, dass das „Positive“ das Ursprüngliche sei – und erinnert daran, dass jedes Denken in Differenz, in Gegensatzpaaren und letztlich in Negation organisiert ist.

Eintausend!

 

Das ist aber eine Menge. Ist sie wirklich vorhanden? Woran erkenne ich das?

 

Ich markiere die Menge nur, wenn sie negativ ist. Also fehlend.

 

Verstehe. Man nimmt sich selbst als positiv an, sozusagen als vorhanden. Und wenn es eine fehlende Menge ist, dann markiert man sie als fehlend.

 

Genau. Nicht fehlend bedeutet vorhanden. Da macht man keine spezielle Markierung hin. Könnte man aber.

 

Das würde dem Vorhandenen ein wenig seine Exklusivität nehmen. Dann wäre es nur noch eine von zwei Möglichkeiten. Nichts Besonderes.

 

Sicher. Und man benutzt den Negationsoperator, um aus dem Vorhandenen ein Fehlendes zu machen. Und umgekehrt. Dummerweise benutzt man teilweise für den Negationsoperator das gleiche Symbol wie zur Kennzeichnung des Fehlenden. Das führt immer wieder zu Verwirrung.

 

Du meinst, warum Minus mal Minus Plus ergibt?

 

Exakt. Was bedeutet denn -5 mal -5? Die eine -5 bedeutet eine Menge von fünf Fehlenden. Soweit klar. Die zweite -5 dagegen sagt, was mit der ersten -5 angestellt werden soll und hat deshalb nichts mit Fehlen oder Vorhandensein zu tun. Man könnte ja auch schreiben: -5 mal 5 mal -1. Damit ist das eigentlich eine zweistufige Operation. Erstens wird die -5 verfünffacht und zweitens wird eine Negation ausgeführt.

 

Das Minus vor der ersten Fünf bedeutet fehlend, während das zweite Minus eigentlich die Operation der Negation beschreibt. Unglücklicherweise wird das gleiche Symbol benutzt. Man vervielfacht ein Fehlendes, was ein größeres Fehlendes ergibt, und anschließend verwandelt man es mittels des Negationsoperators in ein Vorhandenes. Daher also: Minus mal Minus gleich Plus.

 

Genau. Die Minuszeichen haben völlig unterschiedliche Bedeutungen. Und das Gegenteil der Negation, die Affirmation, lässt man gleich völlig weg. Ach übrigens, Fehlen und Vorhandensein ergeben auch nur als Pärchen Sinn.

 

Das geht mir jetzt zu weit. Und außerdem, wenn ich es recht bedenke, ist das Minus vor der ersten Fünf nicht auch nur der Negationsoperator? Das heißt doch, es gibt nur den Negationsoperator. Und Negativität ist Positivität plus Negationsoperator? 

 

Kann man so sehen. Und Positivität ist zudem Negativität plus Negationsoperator. Du siehst, eigentlich gibt es keinen Unterschied zwischen Positivität und Negativität. Man könnte auch sagen, es gibt Links und Rechts, oder Subjekt und Objekt, oder auch Tweedledum und Tweedledee und den Negationsoperator. Irgendwie geht man wohl gern vom Sein aus und tut so, als wäre das das Primäre. Dabei hat man nichts weiter als ein symmetrisches Umtauschverhältnis. Irgendjemand soll mal sinngemäß gesagt haben, dass das Sein und das Nichts im Prinzip dasselbe wären. Scheint zu stimmen, zumindest nach dieser Art von Logik.

 

Oh, Mann!

 

Genau.

Analyse

Der Text „Fehlen und Vorhandensein“ verhandelt in einer dialogischen Form ein faszinierendes Thema: den Zusammenhang von Negation, Vorhandensein, Fehlen und Bedeutung in unserer Denkstruktur. Was auf den ersten Blick wie eine spielerische Reflexion über mathematische Operatoren wirkt – etwa das berühmte „Minus mal Minus ergibt Plus“ – entpuppt sich als tiefgreifende philosophische Analyse über die Struktur unserer Begrifflichkeit: Ist das, was wir als positiv oder existent verstehen, wirklich primär? Oder ist es nur eine von zwei gleichwertigen Optionen in einem symmetrischen System?

Der Text führt uns mit Ironie, sprachlicher Präzision und überraschender Tiefe durch zentrale Fragen der Ontologie, Semiotik und Logik. Im Folgenden soll dieser Text aus verschiedenen Perspektiven analysiert und in größere philosophische Kontexte eingebettet werden.

 

I. Das Unsichtbare der Positivität

„Ich markiere die Menge nur, wenn sie negativ ist. Also fehlend.“

Schon diese erste Unterscheidung weist auf eine fundamentale Asymmetrie hin: Das Fehlen wird markiert, das Vorhandensein bleibt unmarkiert. Diese sprachlich-pragmatische Praxis verweist auf ein epistemisches Grundmuster: Das „Normale“, das „Seiende“ bleibt unsichtbar – während das Abweichende oder Fehlende Aufmerksamkeit erhält.

Diese Idee erinnert an den französischen Poststrukturalismus, insbesondere an Jacques Derridas Konzept der Différance: Bedeutung entsteht nicht durch Präsenz, sondern durch Differenz – durch das, was nicht ist, das, was verschoben oder ausgeschlossen wird. Auch hier wird das „Vorhandene“ als stillschweigend angenommen, das „Fehlende“ dagegen als erkenntnismäßig markiert. Was wir als Positivität verstehen, ist eine konstruierte Leerstelle, eine Position im System, die nur durch ihr Gegenteil bestimmt wird.

 

II. Die Zweideutigkeit des Minuszeichens – Semiotik der Verwirrung

„Das Minus vor der ersten Fünf bedeutet fehlend, während das zweite Minus eigentlich die Operation der Negation beschreibt.“

An dieser Stelle klärt der Text einen semantischen Kurzschluss auf: In der alltäglichen wie mathematischen Sprache wird das gleiche Symbol („-“) für zwei verschiedene Dinge verwendet – für eine Qualität (Fehlen, Negativität) und für eine Operation (Negation). Diese Unterscheidung ist entscheidend, denn sie offenbart die Unschärfe von Symbolen in symbolischen Systemen.

Der Text führt eine feinsinnige semiotische Analyse durch: Bedeutung ist nie nur eine Eigenschaft von Zeichen, sondern hängt vom Kontext und vom Operator ab. In der Logik (etwa bei Frege oder Wittgenstein) wäre dies ein klassisches Problem der „Zeichenverwendung“ versus „Zeichenbedeutung“. Das Minuszeichen steht hier sinnbildlich für die kategoriale Unschärfe in unserer Sprache – eine Unschärfe, die nicht zufällig ist, sondern auf eine tiefere strukturelle Symmetrie hinweist.

 

III. Symmetrie als ontologisches Prinzip

„Du siehst, eigentlich gibt es keinen Unterschied zwischen Positivität und Negativität.“

Diese Aussage könnte in einer Vorlesung über Hegels Dialektik stehen: Dort sind „These“ und „Antithese“ gleichwertige Momente einer Bewegung, die in der „Synthese“ aufgehoben werden. Das, was als Gegensatz erscheint – positiv vs. negativ, vorhanden vs. fehlend – ist letztlich Teil eines dynamischen Systems, das auf Vermittlung durch Negation beruht.

Der Blogtext zieht diesen Gedanken noch weiter ins Absurde – und trifft dabei dennoch eine philosophische Wahrheit: Vielleicht ist Sein nichts anderes als Nichtsein, das sich selbst negiert. Vielleicht ist Existenz nur eine Operation innerhalb eines Systems von Markierungen. Der Hinweis auf die Gleichsetzung von „Sein und Nichts“ erinnert dabei explizit an Hegels berühmten Anfang der Wissenschaft der Logik:

„Das reine Sein und das reine Nichts sind dasselbe.“
– Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Der Text paraphrasiert diese radikale Aussage auf charmante, fast humoristische Weise – aber ihre ontologische Brisanz bleibt bestehen: Es gibt keinen ontologischen Primat des Vorhandenen. Jede Positivität ist das Resultat einer Negation – und jede Negation ist selbst nur durch das, was sie negiert, bestimmbar.

 

IV. Zwischen Logik und Lebenswelt – das Problem der Bedeutung

„Fehlen und Vorhandensein ergeben auch nur als Pärchen Sinn.“

Diese Aussage ist eine explizite Anlehnung an die Strukturalistische Sprachtheorie, wie sie etwa von Ferdinand de Saussure oder Claude Lévi-Strauss formuliert wurde: Begriffe erhalten ihre Bedeutung nicht durch ihre Substanz, sondern durch ihre Relation im System. „Vater“ bedeutet nichts ohne „Kind“, „links“ nichts ohne „rechts“, „existent“ nichts ohne „nicht-existent“.

Wenn das so ist, dann ist jede kategoriale Aussage – wie „dies ist vorhanden“ – bereits implizit eine Aussage über ihr Gegenteil. Sprache, Bedeutung und Sein funktionieren nicht durch Absolutheiten, sondern durch Relationen, Kontraste und symbolische Differenz.

 

V. Fazit: Philosophie im Spielraum der Negation

Der Text „Fehlen und Vorhandensein“ ist mehr als ein cleveres Gedankenspiel über mathematische Zeichen: Er ist ein Beitrag zur kritischen Reflexion über die Grundlagen unseres Denkens. Er entlarvt die Trägheit der Annahme, dass das „Positive“ das Ursprüngliche sei – und erinnert daran, dass jedes Denken in Differenz, in Gegensatzpaaren und letztlich in Negation organisiert ist.

Die Ironie des Textes ist nicht zynisch, sondern erkenntnisfördernd. Sie macht sichtbar, was wir sonst übersehen: Dass „Etwas“ und „Nichts“ sich gegenseitig bedingen, dass das Symbolische nicht neutral ist, und dass unsere Denkformen selbst voller Verwechslungspotenzial stecken.

In einer Welt, die oft das Quantifizierbare, das Vorhandene, das Sichtbare über das Andere stellt, ist dieser Text eine Einladung zum Umdenken – im wörtlichen Sinn: durch Denken hindurch zu einer neuen Sichtweise auf die Grundbegriffe unseres Weltverständnisses.