Tun, was noch nie ein Mensch getan hat

Ein Text über die Grenzen und Möglichkeiten menschlicher Originalität. Der Weg zum „absolut Neuen“ führt nicht über große Erfindungen oder sichtbare Taten, sondern über das eigene Denken, das Erinnern, das subjektive Erleben. Jeder Mensch ist ein einzigartiger Schöpfer seiner Zeit, seiner Geschichte, seiner Perspektive.

Hey, Hankman! Irgendwie siehst du so, wie soll ich sagen, nachdenkend aus?

 

Gut beobachtet. Mir ist gerade eingefallen, wie ich etwas tun könnte, was noch nie ein Mensch getan hat. Auch ich selbst nicht. Sozusagen das absolut Neue.

 

Du machst mich neugierig. Du willst etwas tun, das noch niemals irgendein Mensch jemals getan hat? Angenommen, du versuchst ein neues Wort zu kreieren, dann kannst doch nicht sicher sein, dass das nicht schon mal jemand getan hat? Selbst wenn dein Wort extremst merkwürdig ist, dann geht die Wahrscheinlichkeit zwar gegen Null, aber eine absolute Sicherheit hast du nicht.

 

Ja, an so etwas hatte ich auch schon gedacht. Deswegen musste es etwas sein, das nur ich tun kann.

 

Schon klar. Aber woher willst du wissen, dass es keinen anderen Menschen gibt, der dasselbe tun kann? Wir drehen uns im Kreis. Aber nun lass mich schon an deiner Erkenntnis teilhaben.

 

Ok. Ist doch ganz einfach. Ich denke an mein bisheriges Leben. Kein anderer kann das so wie ich tun. Und selbst wenn ich das zweimal hintereinander tue, dann ist das beim zweiten Mal doch wieder etwas Neues, weil beim zweiten Mal das erste Mal dazugekommen ist.

 

Ich muss schon sagen, du erstaunst mich. Da fällt mir erstmal nichts ein. Außer vielleicht, dass eben die Zeit vergeht, und dass wenn die Zeit vergeht, eben was Neues passiert.

 

Du meinst, Zeit treibt die Veränderung und erzeugt dadurch das Neue?

 

Ja, so in etwa.

 

Und wie soll das funktionieren? Wie macht die liebe Zeit das?

 

Keine Ahnung. Hast du eine bessere Idee?

 

Mir kommt es eher so vor, als ob Zeit einfach nur ein Wort dafür ist, dass ständig etwas Neues entsteht. Und da ich ständig etwas Neues produzieren kann, habe ich auch meine eigene Zeit. Du übrigens auch.

 

Oh, vielen Dank dafür.

 

Gern geschehen.

Analyse

Im Text „Tun, was noch nie ein Mensch getan hat“ entfaltet sich ein philosophischer Dialog zwischen zwei Figuren – dem nachdenklichen Hankman und seinem neugierigen Gegenüber. Die scheinbar spielerische Unterhaltung entpuppt sich rasch als tiefgehende Reflexion über Individualität, Originalität und das Wesen der Zeit.

 

1. Die Sehnsucht nach dem absolut Neuen

Der Ausgangspunkt des Dialogs ist ein Gedanke, der fast naiv klingt, aber eine tief existenzielle Sehnsucht offenbart: etwas tun, das noch nie ein Mensch getan hat. Diese Idee verweist auf einen Urimpuls des Menschlichen – der Wunsch nach Einzigartigkeit, nach echter Authentizität, nach einem Dasein, das nicht bloß Wiederholung oder Kopie ist. Doch schnell wird diese Sehnsucht durch das Gegenüber infrage gestellt: Wie kann man sicher sein, dass das, was man tut, tatsächlich noch nie jemand getan hat?

Der Versuch, ein völlig neues Wort zu erfinden, scheitert an der Unmöglichkeit, absolute Originalität empirisch zu überprüfen. Die ironische Brechung des Gedankens deutet an, dass das „absolut Neue“ kein äußerliches Phänomen sein kann. Es liegt nicht im bloßen Produkt, sondern möglicherweise im Vorgang selbst, im Akt des Denkens oder Erinnerns.

 

2. Erinnerung als schöpferischer Akt

Hankmans Idee, an sein eigenes Leben zu denken – und dabei bei jeder Wiederholung des Gedankens einen neuen Kontext zu erschaffen – ist ein faszinierender Perspektivwechsel. Die Erinnerung wird hier nicht als statisches Archiv verstanden, sondern als aktiver, schöpferischer Akt. Jedes neue Nachdenken verändert das Erinnerte. Die Wiederholung wird zur Neuerfindung. So entsteht ein individueller Schöpfungsprozess, der durch niemanden sonst reproduzierbar ist.

Dieser Gedanke erinnert stark an philosophische Strömungen wie die Phänomenologie, in der das Erleben – nicht das Objektive – im Zentrum steht. Hankmans Subjektivität, sein Leben und seine Gedanken darüber, sind radikal unverwechselbar. In einem weiteren Sinne verweist dies auf Nietzsche’s „ewige Wiederkunft“: Selbst das Wiederholte ist niemals identisch, weil das Erleben selbst sich verändert.

 

3. Zeit als schöpferische Differenz

Im weiteren Verlauf wird die Rolle der Zeit thematisiert. Die Gesprächspartner nähern sich einer originellen Umdeutung: Zeit ist nicht eine messbare, objektive Größe, sondern eine Metapher für die kontinuierliche Entstehung des Neuen. Der Satz „Mir kommt es eher so vor, als ob Zeit einfach nur ein Wort dafür ist, dass ständig etwas Neues entsteht“ stellt eine fast schon mystisch-poetische Definition dar. Die Zeit wird nicht als Rahmen betrachtet, sondern als Prozess des Werdens selbst.

Diese Vorstellung steht im Gegensatz zu einem linearen, quantitativen Zeitbegriff, wie ihn etwa die klassische Physik vertritt. Vielmehr erinnert sie an Bergsons Idee der Dauer (la durée): Zeit als innerer Fluss, als subjektiv erlebte Kreativität, die sich jeder mathematischen Messung entzieht.

 

4. Die ironische Geste der Erkenntnis

Der Dialog schließt mit einem scheinbar beiläufigen Austausch: „Oh, vielen Dank dafür.“ – „Gern geschehen.“ Diese Ironie entwertet nicht die vorherigen Gedanken, sondern bringt sie auf eine menschliche Ebene zurück. Es ist eine Geste der Bescheidenheit: Trotz aller metaphysischen Tiefe bleibt das Gespräch alltäglich, zugänglich, beinahe verspielt. Die Suche nach Sinn wird nicht mit Pathos betrieben, sondern mit Neugier, Skepsis und einem Hang zur Selbstironie.

 

Fazit: Das Neue als persönlicher Akt

„Tun, was noch nie ein Mensch getan hat“ ist ein Text über die Grenzen und Möglichkeiten menschlicher Originalität. Der Weg zum „absolut Neuen“ führt nicht über große Erfindungen oder sichtbare Taten, sondern über das eigene Denken, das Erinnern, das subjektive Erleben. Jeder Mensch ist ein einzigartiger Schöpfer seiner Zeit, seiner Geschichte, seiner Perspektive.

In einer Welt, die zunehmend standardisiert, automatisiert und verallgemeinert, ist dies eine radikale und befreiende Botschaft: Das Neue ist nicht „da draußen“, sondern in uns selbst – in jedem Augenblick, den wir bewusst denken und erleben.