In Bewegung bleiben auf pflanzlicher Basis

Der Text ist ein wunderbar leichtfüßiges, dialogisches Gedankenexperiment, das die Leser:innen subtil zu einer philosophischen Neubewertung von Wahrnehmung anregt. Statt Wahrnehmung als inneren Vorgang zu verstehen, zeigt der Text auf, wie sehr sie an Bewegung, Körperlichkeit und aktiven Weltbezug gebunden ist. Sehen, so wird deutlich, ist nicht einfach ein technisches Feature – es ist ein gelebter Zusammenhang zwischen Bewegung und Erfahrung.

Du, ich hab da mal eine ganz dumme Frage.

 

Ok, schieß los.

 

Warum gibt es eigentlich keine Pflanzen, die sich bewegen können, so von Ort zu Ort, wie wir?

 

Mmh, ich glaube, so eine richtig schlaue Antwort kann ich dir so schnell nicht geben. Ich bin halt kein Genie. Ein Genie weiß auf jede Frage sofort eine Antwort, und die ist auch noch richtig, behauptet zumindest das Genie. Aber gut, dann gebe ich dir einfach mal eine nicht so schlaue Antwort und sage: Pflanzen bewegen sich deshalb nicht, weil sie nicht sehen können.

 

Du meinst also, wenn man den Pflanzen Augen verpassen würde und alles was noch so dazu gehört, dann hätten sie, zumindest theoretisch, die Möglichkeit sich fortzubewegen?

 

Ja, ich denke, das ist die entscheidende Voraussetzung.

 

Verstehe was du meinst. Kommt mir aber irgendwie merkwürdig vor.

 

Wieso?

 

Bin mir nicht sicher. Aber bei dem Gedanken, dass das Sehen so eine Art fertige Komponente ist, die man sozusagen aus dem Regal zieht, um sie nur noch einzubauen, dabei fühl ich mich nicht so richtig wohl.

 

Ich finde das cool. Hat sowas von Baukasten.

 

Das stimmt schon. Aber da stellt sich natürlich sofort die Frage, was Sehen eigentlich ist und wie es funktioniert.

 

Da bilden sich einfach irgendwelche Muster im Gehirn.

 

Und wer schaut die sich an?

 

Ich sehe worauf du hinaus willst. Aber ich denke nicht, dass es da eine unabhängige Instanz gibt.

 

Das denke ich auch nicht. Vielleicht ist ja die Annahme, dass das Sehen Voraussetzung für die Bewegung ist, nicht richtig. Denn genau diese Annahme hat uns zur unabhängigen Instanz geführt.

 

Was wäre die Alternative? Dass Bewegung zum Sehen führt?

 

Zumindest braucht man für die Bewegung keinen Beweger. Und wenn jetzt noch die entsprechende Sensorik mit dem Nervensystem verbunden ist, dann bekommt man wenigstens schon mal eine sensorische Rückmeldung, natürlich immer bezogen auf die gemachte Bewegung.

 

Klingt interessant. Das würde bedeuten, Sehen wird erst einmal erlernt durch Bewegung in der Umgebung, und später werden die Seherlebnisse einfach nur unter Zuhilfenahme des Gedächtnisses konstruiert.

 

Denkbar. Oder vielmehr: Sehen ist der erlernte Zusammenhang von Bewegung und sensorischer Rückmeldung.

 

Zumindest würde das erklären, warum Pflanzen nicht sehen können. Da die sich nicht bewegen, gibt es keinen Grund so etwas zu entwickeln. Mit Empfangen von Bildern hat das nicht mehr viel zu tun.

 

Eigentlich müsste man sagen, selbst wenn man den Pflanzen ein fertiges Sehsystem einbauen würde, könnten sie auch weiterhin nichts sehen, weil das Sehen mittels Bewegung erlernt werden muss.

 

Verstehe. Dann setze ich mich mal in Bewegung, damit mir nicht noch das Sehen abhanden kommt.

 

Wir sehn uns..

Analyse

Der Text „In Bewegung bleiben auf pflanzlicher Basis“ ist ein lockerer Dialog, der auf unterhaltsame Weise eine tiefgründige, phänomenologisch geprägte Reflexion über Wahrnehmung, Bewegung und Erkenntnis anstößt. Was zunächst wie eine naive Frage erscheint – Warum bewegen sich Pflanzen nicht? – entwickelt sich zu einer fundamentalen Hinterfragung unserer Vorstellungen von Wahrnehmung, insbesondere des Sehens. Dabei gelingt dem Text eine philosophisch anspruchsvolle Einsicht: Sehen ist kein passiver Empfang von Bildern, sondern ein aktiver, körperlich eingebetteter Prozess, der sich nur in und durch Bewegung ausbildet.

 

1. Von der „dummen Frage“ zur erkenntnistheoretischen Problemstellung

Schon der Einstieg des Textes ist bezeichnend: Eine scheinbar „dumme Frage“ – warum sich Pflanzen nicht wie Tiere fortbewegen – wird nicht abgetan, sondern ernst genommen. Genau diese Ernstnahme des Naiven ist ein klassischer Topos in der Philosophie. Bereits Platon und später Descartes oder Merleau-Ponty arbeiteten mit der Strategie, vermeintlich Selbstverständliches zu hinterfragen, um zu tieferliegenden Strukturen unseres Denkens vorzudringen.

Hier beginnt die kritische Analyse mit der Annahme, dass Pflanzen nicht sehen, weil sie sich nicht bewegen. Diese Hypothese wird nicht einfach affirmiert, sondern im Laufe des Dialogs dekonstruiert: Kann man „Sehen“ einfach als technische Komponente verstehen, wie ein Objektiv, das man einbauen könnte – oder ist Sehen vielmehr ein dynamischer Prozess, der sich nur in einem aktiven Verhältnis zur Welt ergibt?

 

2. Bewegung als Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung

Der zentrale Gedanke, der sich im Dialog entfaltet, lautet: Sehen ist nicht Voraussetzung für Bewegung – sondern Bewegung ist Voraussetzung für Sehen. Diese Umkehrung hat weitreichende Konsequenzen.

Sie widerspricht dem kartesianischen Erklärungsmodell, das Geist und Körper trennt und Wahrnehmung als inneres, objektiv abbildendes Sehen versteht. Stattdessen nähert sich der Text einer phänomenologischen Position, wie sie etwa von Maurice Merleau-Ponty in Phänomenologie der Wahrnehmung vertreten wird:

„Wahrnehmung ist nicht das Resultat von Reizen, sondern die Artikulation eines leiblichen In-der-Welt-Seins.“

In dieser Sichtweise ist der Körper kein Empfänger von Sinnesdaten, sondern ein aktiver Vermittler – ein „Leib“, der sich durch Bewegung in der Welt orientiert und dadurch überhaupt erst Bedeutung erzeugt. Sehen ist demnach kein passives Aufnehmen, sondern ein gelerntes, verkörpertes Tun – es entsteht aus dem Zusammenspiel von Bewegung, sensorischer Rückmeldung und Gedächtnis.

 

3. Pflanzen als erkenntnistheoretische Grenze

Warum bewegen sich Pflanzen nicht – oder besser: Warum brauchen sie es nicht? Der Text liefert eine elegante Antwort: Weil sie sich nicht bewegen, fehlt ihnen die notwendige Voraussetzung, um Sehen im tieferen Sinne zu entwickeln. Selbst ein „eingebautes“ Sehsystem – also ein biologisch vorhandenes Auge – bliebe blind, solange keine Bewegungserfahrung zur Verfügung steht, durch die sich sensorische Muster mit Bedeutungsgehalten verbinden könnten.

Diese Überlegung verweist auf eine tiefe Erkenntnis: Wahrnehmung ist nicht unabhängig vom Leben, sie ist kein „abstrakter Datentransfer“, sondern entsteht aus der leiblichen, aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt. Der Körper ist hier kein technisches Vehikel, sondern integraler Teil des Weltbezugs.

 

4. Der Mythos des „fertigen Moduls“

Der Text nimmt dabei auch eine leise Kritik an einer reduktionistischen, technokratischen Sichtweise auf den Körper und seine Funktionen vor – etwa in der Vorstellung, man könne das Sehen als „Baukastensystem“ begreifen: Auge + Gehirn = Sehen. Diese Denkweise erinnert an den funktionalistischen Kognitivismus, der in den Neurowissenschaften und der KI-Forschung oft vertreten wird. Dagegen halten philosophische Positionen wie die Embodied Cognition (z.B. Alva Noë) oder die enaktive Theorie der Wahrnehmung (z.B. Francisco Varela), dass Wahrnehmung aus Handlung und Erfahrung hervorgeht, nicht aus reinem Signalempfang.

Alva Noë schreibt in Action in Perception (2004):
„Perception is not something that happens to us, or in us. It is something we do.“

Sehen ist also kein passives „Ansehen“, sondern ein aktives, dynamisches Verstehen, das sich in der Bewegung entfaltet. Pflanzen – so folgt logisch – entwickeln kein Sehen, weil sie keinen Anlass dazu haben: Ihre stationäre Lebensweise schließt diesen Erfahrungsmodus aus.

 

5. Epilog: Bewegung als Voraussetzung von Erkenntnis

Am Ende des Dialogs sagt eine Figur augenzwinkernd: „Dann setze ich mich mal in Bewegung, damit mir nicht noch das Sehen abhandenkommt.“ In dieser spielerischen Pointe steckt eine tiefere Wahrheit: Erkenntnis ist nicht bloß ein kognitiver Akt, sondern ein leiblicher Vollzug. Bewegung – sowohl im physischen als auch im geistigen Sinne – ist die Voraussetzung dafür, Welt überhaupt wahrnehmen und verstehen zu können.

In diesem Sinne könnte man den Text als Einladung verstehen, sich nicht auf vorgefertigte Sichtweisen zu verlassen, sondern durch Bewegung – im Denken wie im Handeln – eine eigene Perspektive zu entwickeln. Oder wie Merleau-Ponty es formulierte:

„Der Sinn der Welt geht nicht der Erfahrung voraus, sondern ist ihr Produkt.“

 

Fazit

Der Text „In Bewegung bleiben auf pflanzlicher Basis“ ist ein wunderbar leichtfüßiges, dialogisches Gedankenexperiment, das die Leser:innen subtil zu einer philosophischen Neubewertung von Wahrnehmung anregt. Statt Wahrnehmung als inneren Vorgang zu verstehen, zeigt der Text auf, wie sehr sie an Bewegung, Körperlichkeit und aktiven Weltbezug gebunden ist. Sehen, so wird deutlich, ist nicht einfach ein technisches Feature – es ist ein gelebter Zusammenhang zwischen Bewegung und Erfahrung.

Was bleibt, ist die Einsicht: Wer wirklich sehen will, muss sich bewegen. Wer sich nicht bewegt, sieht – im tieferen Sinne – gar nichts.

 

Philosophische Bezugspunkte:

  • Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung

  • Alva Noë, Action in Perception

  • Francisco Varela / Evan Thompson / Eleanor Rosch, The Embodied Mind

  • Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode – zur Bedeutung von Bewegung für das Selbst

  • Gilles Deleuze, Différence et répétition – zur produktiven Differenz statt statischer Kategorien