Offside: Rollerei, Schwindeligkeit und eine Kompliziertheit ungeheuren Ausmaßes (Podcast)

Trotz – oder gerade wegen – seiner scheinbaren Beliebigkeit ist der Dialog ein intelligenter Kommentar zur Art und Weise, wie Menschen Bedeutung erzeugen, verlieren und kompensieren. Er zeigt auf, wie Sprache uns sowohl Struktur geben als auch in die Irre führen kann. Dabei gelingt es dem Text, Witz mit Tiefgang zu verbinden, und gerade in seiner spielerischen Form radikale Fragen über das Selbst, die Wahrnehmung und die Grenze von Erkenntnis aufzuwerfen.


Los, los, einen Einfall!

 

Ein Einhorn wäre mir lieber.

 

Ja, mir auch. Ich weiß, was du meinst. Eins davor und eins danach. Und zwischendrin sowieso.

 

Weißt du, was völlig unbekannt ist, in Bezug auf Einhörner?

 

Nein?

 

Steintürme!

 

Steintürme?

 

Ja, Steintürme.

 

Ich hatte so etwas schon geahnt. Hängt irgendwie mit dem Horn zusammen. Vermutlich wegen Steinbock. Hatte man nicht auch schon Steinhorn gesagt?

 

Nicht dass ich wüsste. Denn wenn ich das wüsste, dann wäre ich der Rufer an der Küste. Nicht in der Wüste. Da ist es nicht so dolle.

 

Spielt das eine Rolle?

 

Ich weiß nicht, ob das Das eine Rolle spielt. Und wieso werden eigentlich immer Rollen gespielt? Das wäre nichts für mich. Mir wird so leicht schwindelig.

 

Vielleicht geht es auch ohne diese Herumrollerei. Auch wenn es nur gespielt ist, für den jeweiligen Spieler hat es so gar nichts von einem Spiel. Es soll ja nur so aussehen, als wäre das Herumrollen gespielt. Nur wäre Schwindeligkeit tatsächlich kontraproduktiv. Ich denke, man sollte dieses Problem als Chance begreifen und einfach mal in eine andere Richtung denken. Es liegt doch auf der Hand, dass Personen mit einem starken Hang zur Schwindeligkeit, besser genau diese Schwindeligkeit verkörpern sollten und die Rollerei denen überlassen, die dafür mehr geeignet sind. Denn es scheint doch tatsächlich so zu sein, dass diese beiden Dinge vollkommen gegensätzlich sind, dass sie nie gleichzeitig bei ein und derselben Person auftreten können. Das bedeutet demnach, dass man den Auftritt immer nur auf eine einzige Art und Weise vollziehen kann, entweder Rollerei oder Schwindeligkeit. Nur, wäre auch ein Übergang denkbar? Man startet mit der Rollerei und lässt diese übergehen in die Schwindeligkeit? Ich bin mir nicht sicher, ob sich das jemand antun würde. Das wäre ein recht großes Opfer für die Kunst. Doch soll man nichts ausschließen, und es bietet die Möglichkeit, sich auf diese Art und Weise einen Namen zu machen. Die andere Option wäre, bezüglich des Übergangs, mit der Schwindeligkeit anzufangen und dann zur Rollerei überzugehen. Ich weiß nicht, ob das schon jemals jemandem gelungen ist. Das kann eigentlich nur funktionieren, wenn jemand seine Schwindeligkeit vortäuscht und diese damit Teil einer noch umfassenderen Rollerei wäre. Der Verschachtelung von Schwindeligkeit und Rollerei sind theoretisch keine Grenzen gesetzt, doch sieht das praktisch etwas anders aus. Hier ist schnell eine Grenze erreicht, an der keiner mehr wird sagen können, ob es sich um eine gerollte Schwindeligkeit handelt, die ja selbst wiederum eine geschwindelte Rolligkeit sein könnte, oder ob es genau andersherum ist. Ich denke, viele hätten ein Problem damit. Es sei denn, dass genau diese Verwirrung das Ziel des Ganzen wäre, sozusagen das Konzept, die Intention. Indem man eine anfängliche Ordnung durch das Hinzufügen immer neuer Ebenen, sei es Schwindeligkeit oder Rollerei, in eine Kompliziertheit ungeheuren Ausmaßes verwandelt, eine Kompliziertheit von ungeheuerlicher Unüberschaubarkeit, bleiben dem Beobachter wenige Möglichkeiten. Er kann sich einreden, den Faden nicht verloren zu haben und sich eine Vorstellung des Geschehenen zusammenbasteln. Vielleicht nicht die schlechteste Entscheidung. Hier sind die Meister des Selbstbetrugs gefragt. Oder er gibt einfach zu, dass er dem vermeintlichen Chaos nicht Herr werden kann, dass er es einfach nicht weiß und muss damit leben. Dafür ist sicherlich eine ganz besondere Charakterstärke notwendig. Ungelöste Rätsel haben schon so manchen in den Wahnsinn getrieben. Doch zurück zum Ausgangspunkt. Was war der gleich nochmal?

 

Steintürme!

 

Richtig. Das Wesen der Steintürme. Dazu wäre noch so einiges zu sagen. Sollen wir das auf morgen verschieben?

 

Danke.

Analyse

Der vorliegende Dialog ist ein spielerisches, tiefenphilosophisches Sprachkunstwerk, das in scheinbar absurder Assoziation zwischen Einhörnern, Steintürmen, Rollenspielen und Schwindel eine Reflexion über Identität, Darstellung und kognitive Überforderung entfaltet. Was zunächst wie eine absurde Improvisation wirkt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein Beispiel existenzieller Sprachphilosophie – verpackt in Ironie und Paradoxie.

Dieses Essay analysiert den Dialog unter drei zentralen Perspektiven: (1) als Sprachspiel im Sinne Ludwig Wittgensteins, (2) als Metapher für das Verhältnis von Authentizität und Rolle, und (3) als Parabel auf die Unmöglichkeit kohärenter Erkenntnis in einer überkomplexen Welt.

 

1. Sprachspiel und semantische Kreativität: Die Macht des Ungewohnten

Der Dialog beginnt mit einem performativen Befehl: „Los, los, einen Einfall!“ – ein Impuls zur Kreativität, dem das „Einhorn“ antwortet. Hier wird deutlich: Es geht nicht um sachliche Themen oder lineare Argumentation, sondern um den performativen Akt des Denkens selbst. Das Einhorn steht dabei als Symbol des Imaginären, des Einzigartigen, Unerklärlichen – ein oft genutztes Motiv in surrealen oder märchenhaften Diskursen. In direkter Folge taucht das Wort „Steintürme“ auf, völlig unerwartet, völlig zusammenhangslos – und gerade deshalb produktiv.

Wie bei Wittgenstein sind Bedeutung und Verständnis hier nicht durch logische Definitionen gegeben, sondern durch den Gebrauch von Sprache. Dass Einhörner und Steintürme miteinander verbunden werden, hat keinen rationalen Grund – sondern einen spielerischen. Sprache wird zur Bühne für neue Bedeutungswelten, in denen logische Verbindungen durch narrative Willkür ersetzt werden.

 

2. Rolle, Schwindel und Identität: Das Theater des Selbst

Im Mittelteil des Dialogs verlagert sich die Aufmerksamkeit auf die Begriffe „Rollerei“ und „Schwindeligkeit“. Diese scheinbar banalen Wörter entfalten in ihrer Kombination eine tiefere Bedeutung: Wer spielt eine Rolle? Wer bleibt authentisch? Was ist Täuschung, was ist Ausdruck?

Hier wird das Rollenspiel als Metapher für gesellschaftliche Darstellung eingeführt – eine Idee, die in der Soziologie (z. B. bei Erving Goffman) oder der Existenzphilosophie (Sartre) immer wieder aufgegriffen wird. Der Schwindel steht dabei für die Verunsicherung des Subjekts, das sich seiner Rolle nicht mehr sicher ist. Besonders interessant ist die Idee der „verschachtelten“ Schwindeligkeit und Rollerei – als Ausdruck einer zunehmenden Verwirrung zwischen Sein und Schein.

Die Frage, ob jemand „vortäuscht zu schwindeln“ oder „schwindelt, um zu täuschen“, führt in eine erkenntnistheoretische Sackgasse – in der am Ende jede Unterscheidung unmöglich wird. Hier liegt eine tiefe Skepsis gegenüber jeder Eindeutigkeit: Je mehr man reflektiert, desto mehr verschwimmt der Unterschied zwischen echter Handlung und Darstellung.

 

3. Überforderung und Selbstbetrug: Leben im Komplexitätsrausch

Ein weiterer roter Faden ist die Auseinandersetzung mit dem Moment der kognitiven Überforderung. Der Dialog beschreibt eine Welt, in der sich die Ebenen von Rollenspiel und Schwindel so sehr überlagern, dass kein „Beobachter“ mehr in der Lage ist, eine klare Ordnung zu erkennen. Zwei Reaktionen bleiben: Selbstbetrug oder Resignation.

Der „Meister des Selbstbetrugs“ steht für die Fähigkeit, sich in einem chaotischen Universum eine fiktive Ordnung zurechtzulegen – ein Schutzmechanismus, den der Mensch oft wählt. Die Alternative ist das Eingeständnis der Unwissenheit – ein Akt radikaler Ehrlichkeit, aber auch eine potenzielle Quelle von Wahnsinn, wie der Text andeutet. Dies erinnert an antike Tragödien ebenso wie an moderne Philosophien des Absurden (Camus, Kierkegaard).

Der Schluss („Was war gleich nochmal?“ – „Steintürme!“) ist eine ironische Rückkehr zum Ausgangspunkt. Alles ist gesagt – und doch ist nichts gesagt. Das ursprüngliche Thema bleibt ungelöst, weil es nie wirklich Thema war, sondern bloß Ausgangspunkt für eine Reise in die Tiefe der Sprachreflexion.

 

Fazit: Ein meta-philosophischer Nonsens mit Tiefe

Trotz – oder gerade wegen – seiner scheinbaren Beliebigkeit ist der Dialog ein intelligenter Kommentar zur Art und Weise, wie Menschen Bedeutung erzeugen, verlieren und kompensieren. Er zeigt auf, wie Sprache uns sowohl Struktur geben als auch in die Irre führen kann. Dabei gelingt es dem Text, Witz mit Tiefgang zu verbinden, und gerade in seiner spielerischen Form radikale Fragen über das Selbst, die Wahrnehmung und die Grenze von Erkenntnis aufzuwerfen.

Ob es nun um Einhörner, Steintürme, Rollen oder Schwindel geht – letztlich fragt dieser Text: Wie viele Ebenen des Spiels mit Wirklichkeit kann ein Mensch ertragen, bevor ihm schwindelig wird?