Der Text ist mehr als eine skurrile Anekdote. Er ist ein fein komponiertes Stück absurder Prosa, das in wenigen Absätzen zentrale Aspekte der menschlichen Existenz berührt: Wahrnehmung, Projektion, soziale Angst, Vermeidung und die Absurdität des Daseins. Die eigentliche Störung ist weniger das Schnaufen des anderen – sie liegt im Inneren des Erzählers.
Am interessantesten waren die Nebengeräusche. Vor allem die, die von links kamen. Es war nicht direkt ein Schnarchen, sondern mehr so ein leises Schnaufen, wie von einer kleinen Dampflokomotive. Das dachte ich zumindest, während ich meinen Kopf starr nach vorn gerichtet hielt. Immer bemüht, ihn nicht auch nur einen einzigen Millimeter nach links zu drehen. Nur die Augen ließ ich nach links wandern, bis zum Anschlag, soweit wie es eben ging und solange die Schmerzen erträglich waren. Das war wirklich verrückt. Alles nur, um meinen Kopf nicht drehen zu müssen, weil ich mir nicht die Blöße des dummen Anstarrens geben wollte. Warum musste sich ausgerechnet eine kleine Dampflokomotive neben mich setzen? Das war wirklich ungewöhnlich, zumal doch alle Plätze in diesem Kino elektrifiziert waren. Üblicherweise war von den Sitzen nicht mehr als ein angenehmes Summen zu hören. Und was mir auch nicht bekannt war, dass Dampflokomotiven überhaupt noch in Kinos gingen. Schließlich beschränkte sich die Filmauswahl mittlerweile auf solche Streifen, in denen fossile Brennstoffe überhaupt nicht mehr vorkamen. Das machte die Sache noch unverständlicher. Oder war es vielleicht so, dass da überhaupt keine Dampflokomotive neben mir saß, dass sich da jemand einfach nur einen Scherz erlaubte, indem er eine Dampflokomotive imitierte? Welche Möglichkeiten hatte ich, um das herauszufinden ohne visuellen Kontakt? Gut, ich könnte ebenfalls eine Dampflokomotive imitieren, um zu schauen, wie der andere reagiert. Und dann? Wenn es nun tatsächlich eine Dampflokomotive wäre, würde die vermutlich denken, dass ich mich über sie lustig machte. So etwas konnte böse enden. Wie jeder wusste, waren Dampflokomotiven nicht gerade zimperlich, wenn es ums Dampf ablassen ging. Das wollte ich keinesfalls riskieren und verwarf daher diese Möglichkeit. Mein Gott! Dieses Schnaufen war wirklich unerträglich. Und die Schmerzen von den verdrehten Augen wurden auch immer stärker. Es konnte doch nicht so schwer sein, einfach mal nach vorn auf die Leinwand zu schauen. Deswegen war ich eigentlich hier. Konnte ja keiner ahnen, dass das, was sich links von mir abspielte, möglicherweise viel interessanter war. Wenn der Film endlich aus war, musste ich ganz schnell nach rechts verschwinden, ohne zurückzuschauen, und diesen unliebsamen Vorfall ganz schnell vergessen. Wahrscheinlich würde ich so schnell nicht wieder in ein Kino gehen. Genau! Zukünftig würde ich nur noch ins Ballett gehen. Da sind Dampflokomotiven nämlich verboten! Warum bin ich da nicht schon eher drauf gekommen? Nun denn. Eine gute Nacht!
Analyse
Der kurze Text "Störgröße" eröffnet ein ebenso humorvolles wie tiefgründiges Gedankenexperiment: Eine scheinbar harmlose Situation im Kino wird zur Bühne für existenzielle Unsicherheiten, Selbstwahrnehmung und absurdes Denken. Was auf den ersten Blick eine witzige Begebenheit rund um ein störendes Geräusch zu sein scheint, entwickelt sich zu einer metaphorischen Reflexion über soziale Normen, Wahrnehmung und die Angst vor Bloßstellung.
1. Der Störfaktor als Projektionsfläche
Im Zentrum des Textes steht eine Geräuschquelle – ein leises „Schnaufen“ – die der Ich-Erzähler mit einer „kleinen Dampflokomotive“ assoziiert. Diese metaphorische Überhöhung verweist auf einen klassischen Mechanismus menschlicher Wahrnehmung: Die Übertragung innerer Unruhe auf äußere Reize. Das Schnaufen des unbekannten Sitznachbarn wird zur Störgröße, die den Protagonisten vollständig absorbiert, seine Wahrnehmung dominiert und den eigentlichen Grund seines Kinobesuchs – den Film – in den Hintergrund drängt.
Das Phänomen erinnert an Jean-Paul Sartres Beschreibung von Scham als das Bewusstsein, durch den Blick des Anderen zum Objekt gemacht zu werden. Hier kehrt sich das jedoch ins Gegenteil: Nicht der Protagonist wird angesehen, sondern er vermeidet selbst jeden Blick. Diese bewusste Vermeidung – „den Kopf nicht auch nur einen einzigen Millimeter nach links zu drehen“ – verweist auf eine tief verankerte Angst vor dem sozialen Fauxpas. Die Befürchtung, den Anschein des Anstarrens zu erwecken, wird zur bestimmenden Handlungsmotivation. In dieser überzogenen Selbstkontrolle spiegelt sich eine paradoxe Form der Selbstverlorenheit.
2. Absurdität und Imagination
Der Text lebt von der konsequent durchgeführten absurden Logik der Gedanken des Protagonisten. Dass sich eine „Dampflokomotive“ ins Kino verirrt habe, wird weder als skurril noch als unmöglich verworfen, sondern spekulativ weitergesponnen. Diese bewusste Suspension der Realität führt in einen Raum der Imagination, in dem absurde Hypothesen („Ich könnte ebenfalls eine Dampflokomotive imitieren…“) als Handlungsmöglichkeiten ernsthaft erwogen werden.
In diesem Moment erinnert der Text stark an Albert Camus' Philosophie des Absurden, wie etwa in Der Mythos des Sisyphos (1942) beschrieben: Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen stößt auf eine sinnlose Welt und versucht dennoch, Ordnung zu schaffen. Der Protagonist des Textes versucht, mit der Irritation umzugehen, ohne die Absurdität der Situation aufzulösen – er akzeptiert sie notgedrungen und entwickelt komisch-absurde Strategien des Umgangs.
3. Soziale Konditionierung und Vermeidungsverhalten
Das zentrale Thema des Textes ist jedoch nicht nur das Absurde, sondern auch die Konfrontation mit sozialen Normen und Zwängen. Der Wunsch, nicht negativ aufzufallen, nicht zu stören oder „sich keine Blöße zu geben“, steht im Zentrum der inneren Zerrissenheit des Protagonisten. Dabei wird deutlich, wie stark äußere Erwartungen internalisiert sind – selbst auf Kosten körperlicher Schmerzen („bis die Schmerzen erträglich waren“).
Die Entscheidung, in Zukunft „nur noch ins Ballett“ zu gehen – weil „Dampflokomotiven dort verboten“ seien – ist eine ironisch zugespitzte Fluchtreaktion. Sie verweist auf eine typisch menschliche Strategie, unangenehme Erfahrungen durch Umweltvermeidung statt durch Selbstveränderung zu bewältigen. Es geht nicht um die Konfrontation mit der Störgröße, sondern um ihre vollständige Ausklammerung durch Rückzug.
4. Sprache und Stil als Mittel der Reflexion
Stilistisch zeichnet sich der Text durch eine lakonisch-humorvolle Sprache aus, die innere Monologe mit feiner Ironie verwebt. Die scheinbar banale Situation wird durch die gezielte Übertreibung („Dampflokomotive“, „fossile Brennstoffe im Kino verboten“) ins Groteske überführt. Dabei bleibt der Text stets in einer introspektiven Ich-Perspektive, wodurch sich der Leser unmittelbar in die gedankliche Spirale des Protagonisten einfühlen kann.
Diese innere Perspektive öffnet Raum für Identifikation, aber auch für kritische Distanz: Die absurde Logik des Protagonisten wirkt zugleich nachvollziehbar und lächerlich. Der Text lädt dadurch zur Selbstreflexion ein: Wie oft projizieren wir selbst, statt uns direkt mit einer Situation auseinanderzusetzen?
Fazit: Die Störgröße als Spiegel des Selbst
Der Text "Störgröße" ist mehr als eine skurrile Anekdote. Er ist ein fein komponiertes Stück absurder Prosa, das in wenigen Absätzen zentrale Aspekte der menschlichen Existenz berührt: Wahrnehmung, Projektion, soziale Angst, Vermeidung und die Absurdität des Daseins. Die eigentliche Störung ist weniger das Schnaufen des anderen – sie liegt im Inneren des Erzählers. Die Dampflokomotive wird zur Projektionsfläche für seine Unsicherheit und sein Bedürfnis nach Kontrolle. Damit wird die Störgröße zur Metapher für alles, was sich der eigenen Ordnung und Erwartung entzieht – und genau darin liegt ihre philosophische Relevanz.