Der Text zeigt auf humorvolle und dennoch tiefgründige Weise, dass Wahrheit nicht in der Welt gefunden, sondern im Selbstverhältnis erzeugt wird. Das Selbst ist kein Subjekt im kartesianischen Sinne, sondern ein fragmentiertes, dialogisches Ensemble, das sich ständig neu organisiert – im Gespräch, im Widerspruch, im Betrug.
Ich komme nun zum Punkt.
Das klingt nach Selbstbetrug.
Das Selbst betrügt sich selbst?
Nur zum Teil. Der Teil des Selbst, der die Betrugshandlung vollzieht, ist nicht der Betrogene.
Dann gibt es zwei Selbste?
Mindestens. Damit der Betrug des einen oder anderen Selbst an einem anderen Selbst nicht sofort auf das betrügende Selbst zurückfällt, wird meist indirekt betrogen. Das ist auch viel interessanter. Zumal die zwischengeschalteten Selbste selbst betrügerische Selbste sein können. Doch das weiß keiner wirklich genau. Nur das Selbst selbst weiß, ob es selbst ein betrügerisches Selbst ist.
Also weiß keiner irgendetwas wirklich genau?
So ist es. Jedes Selbst macht sein Ding für sich selbst. Das führt letztendlich zu irgendetwas. Und wenn dieses Irgendetwas einigermaßen stabil ist, d.h., wenn alle Selbste damit leben können, dann ist es einfach so. Das ist das Resultat. Die Selbste haben gesprochen. Nicht für sich selbst als einzelne Selbste, sondern als großes, gemeinsames Selbst, das mehr ist als die Summe seiner einzelnen Selbste. Und das ist die Selbstheit der Selbste. Kannst auch Wahrheit dazu sagen. Ohne Selbstwahrheit kein Selbstbetrug.
Dann gibt es gar keine Wahrheit?
Doch. Die Wahrheit der Selbstheit, wenn du so willst. Aber das wäre nun wirklich Selbstbetrug, denn man würde ja so tun, als wäre Wahrheit etwas Separates. So als könne die Selbstheit wahr oder nicht wahr sein. Selbstheit ist immer Wahrheit, es gibt sie einfach. Eine zugegebenermaßen völlig sinnlose Aussage. Das hast du wahrscheinlich bemerkt. Aber was tut man nicht alles für die Wahrheiten.
Viele Selbstheiten bedeuten viele Wahrheiten?
Ich weiß wie Selbstheiten entstehen. Aber wie sollen denn Wahrheiten entstehen, falls die wirklich etwas Eigenständiges sein sollen? Diese Selbstheit hast du dir doch selbst ausgedacht! Oder wer war es?
Selbstverständlich die Selbste!
Analyse
Der Text „Selbstverständlich“ entfaltet auf spielerisch-ironische Weise eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Frage nach der Selbststruktur des Bewusstseins, dem Phänomen des Selbstbetrugs, und der Möglichkeit von Wahrheit. Dabei verwendet der Text keine abstrakte Metasprache, sondern vollzieht seine Philosophie dialogisch und performativ: Das Nachdenken über das Selbst ist hier selbst ein Selbstgespräch – mit sich selbst und über sich selbst.
Im Zentrum steht ein Paradox: Wie kann das Selbst sich selbst betrügen? Oder: Wie kann ein Ich, das über sich selbst verfügt, zugleich sich selbst verkennen? Diese Fragen sind keine bloßen Wortspiele, sondern berühren grundlegende Probleme der Erkenntnistheorie, Bewusstseinsphilosophie und Ethik. Der Text stellt sie nicht als systematische Untersuchung dar, sondern als ein Verwirrspiel, das an große philosophische Denkfiguren wie Fichte, Nietzsche, Freud, Derrida oder auch Donald Davidson erinnert – ohne je auf diese zu verweisen, sondern im Gestus des sokratischen Spiels.
1. Selbstbetrug als Strukturproblem: Wer betrügt wen?
Die erste Pointe des Textes ist die Erkenntnis, dass Selbstbetrug nur möglich ist, wenn das Selbst in sich gespalten ist:
„Der Teil des Selbst, der die Betrugshandlung vollzieht, ist nicht der Betrogene.“
Diese Formulierung erinnert an Freuds Modell des Ichs und Über-Ichs, aber noch grundlegender an das Problem, das Donald Davidson in seinem Aufsatz „Paradoxes of Irrationality“ formuliert: Wie kann ein rationales Wesen etwas glauben, was es zugleich weiß, dass es nicht wahr ist?
Davidsons Lösung – Selbstbetrug als eine Form von „unbewusster Segmentierung“ der Überzeugungen – entspricht genau der Idee des Textes, in dem viele Selbste durcheinander handeln, sprechen und betrügen:
„Zumal die zwischengeschalteten Selbste selbst betrügerische Selbste sein können.“
Der Selbstbetrug ist also keine Anomalie, sondern Konstitutionsbedingung des Selbst – das Ich ist keine monolithische Instanz, sondern ein Netzwerk widersprüchlicher Tendenzen, Täuschungen und Maskierungen.
2. Die Selbstheit der Selbste: Wahrheit ohne Fixpunkt
In einem zentralen Abschnitt des Textes wird die Frage gestellt:
„Dann gibt es gar keine Wahrheit?“
„Doch. Die Wahrheit der Selbstheit, wenn du so willst.“
Der Text bewegt sich hier im Grenzbereich zwischen Konstruktion und Realismus, ähnlich wie Richard Rorty in seiner Kritik an der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Rorty spricht von „Wahrheit als Kompliment“, das wir erfolgreichen Aussagen verleihen – nicht als Entsprechung zur Realität, sondern als soziale Anerkennung einer diskursiven Stabilität.
Auch im Text ist Wahrheit das, worauf sich die vielen Selbste einigen – nicht weil es objektiv wahr ist, sondern weil es funktional stabilisiert ist:
„Wenn alle Selbste damit leben können, dann ist es einfach so. Das ist das Resultat.“
Diese „Selbstheit der Selbste“ – das emergente Ich-Kollektiv – erinnert an Konzepte aus der Systemtheorie (z. B. Niklas Luhmann) oder dem Poststrukturalismus (Jean-Luc Nancy: être-singulier-pluriel), wo das Subjekt nicht als Einheit, sondern als relationale Vielheit gedacht wird.
3. Wahrheit als paradoxes Produkt von Selbstverhältnissen
Eine der subtilsten Wendungen im Text ist die Einsicht, dass Wahrheit selbst zum Selbstbetrug werden kann, sobald man sie als etwas Eigenständiges behandelt:
„Man würde ja so tun, als wäre Wahrheit etwas Separates. So als könne die Selbstheit wahr oder nicht wahr sein.“
Dies stellt eine radikale Infragestellung der klassischen Wahrheitstheorien dar: Wahrheit ist keine ontologische Größe, sondern eine performative Funktion der Selbste, ein Effekt der Selbstrelation:
„Selbstheit ist immer Wahrheit. [...] Aber was tut man nicht alles für die Wahrheiten.“
Der Ton ist ironisch, aber nicht zynisch. Der Text anerkennt die Unvermeidlichkeit dieser „kleinen Wahrheiten“, dieser pragmatischen Ordnungen, die wir als „Selbste“ benötigen, um leben zu können – auch wenn wir wissen, dass sie weder absolut noch kohärent sind.
4. Selbstverständlich – ein doppelter Titel
Der Titel „Selbstverständlich“ spielt bewusst mit Mehrdeutigkeit. Wörtlich gelesen, bedeutet er: etwas, das sich selbst erklärt. Aber im Kontext des Textes wird deutlich, dass genau dies nicht möglich ist – das Selbst ist nicht verständlich, zumindest nicht in sich selbst.
Die ironische Brechung dieses Ausdrucks durchzieht den gesamten Dialog: Was selbstverständlich scheint – das Selbst, die Wahrheit, die Erkenntnis – ist genau das, was nicht selbstverständlich ist, sondern vielmehr Ergebnis einer permanenten Selbstverhandlung.
In diesem Sinne könnte man den Titel auch dekonstruktiv lesen – im Geiste Derridas: Als eine Differenz zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was sich in der Sprache entzogener Sinn bleibt. Das Selbst erklärt sich nicht selbst – es spricht nur in Masken, Stimmen, Perspektiven.
Fazit: Wahrheit als Selbstverhältnis
Der Text „Selbstverständlich“ zeigt auf humorvolle und dennoch tiefgründige Weise, dass Wahrheit nicht in der Welt gefunden, sondern im Selbstverhältnis erzeugt wird. Das Selbst ist kein Subjekt im kartesianischen Sinne, sondern ein fragmentiertes, dialogisches Ensemble, das sich ständig neu organisiert – im Gespräch, im Widerspruch, im Betrug.
Was bleibt, ist ein gewisses Maß an spielerischer Selbstironie. Die Philosophie des Textes ist postmetaphysisch, aber nicht nihilistisch – sie vertraut nicht auf „die Wahrheit“, aber sie nimmt die Selbste ernst, die sie immer wieder aufs Neue erzeugen.
Literaturverweise zur Vertiefung:
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Donald Davidson: Paradoxes of Irrationality – Zum Problem des Selbstbetrugs
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Richard Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity – Wahrheit als soziales Spiel
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Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz – Sprache, Selbst und Differenz
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Sigmund Freud: Das Ich und das Es – Selbst als strukturierte Instanz
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Jean-Luc Nancy: Being Singular Plural – Das Mitsein der Selbste
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Niklas Luhmann: Soziale Systeme – Wahrheit als Systemreferenz