Stehende Ewigkeit

 

Es habe das Sein nicht immer gegeben und werde es nicht immer geben. Es habe einen Anfang gehabt und werde ein Ende haben, mit ihm aber Raum und Zeit, denn die seien nur durch das Sein und durch dieses aneinander gebunden. Raum sei nichts weiter als die Ordnung oder Beziehung materieller Dinge untereinander. Ohne Dinge, die ihn einnähmen, gäbe es keinen Raum und auch keine Zeit, denn Zeit sei nur eine durch das Vorhandensein von Körpern ermöglichte Ordnung von Ereignissen, das Produkt der Bewegung, von Ursache und Wirkung, deren Abfolge der Zeit Richtung verleihe, ohne welche es Zeit nicht gebe. Raum- und Zeitlosigkeit aber, das sei die Bestimmung des Nichts. Dieses sei ausdehnungslos in jedem Sinn, stehende Ewigkeit, und nur vorübergehend sei es unterbrochen worden durch das raum-zeitliche Sein. Mehr Frist, um Äonen mehr, sei dem Sein gegeben als dem Leben; aber einmal, mit Sicherheit, werde es enden, und mit ebensoviel Sicherheit entspreche dem Ende ein Anfang. Wann habe die Zeit, das Geschehen begonnen? Wann sei die erste Zuckung des Seins aus dem Nichts gesprungen kraft eines „Es werde“, das mit unweigerlicher Notwendigkeit bereits das „Es vergehe“ in sich geschlossen habe? Vielleicht sei das „Wann“ des Werdens nicht gar so lange her, das „Wann“ des Vergehens nicht gar so lange hin – nur einige Billionen Jahre her und hin vielleicht... Unterdessen feiere das Sein sein tumultuöses Fest in den unermesslichen Räumen, die sein Werk seien und in denen es Entfernungen bilde, die von eisiger Leere starrten.

 

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Unsere Milchstraße, eine unter Billionen, schließe beinahe an ihrem Rande, beinahe als Mauerblümchen, dreißigtausend Jahreslichtläufe von ihrer Mitte entfernt, unser lokales Sonnensystem ein, mit seinem riesigen, vergleichsweise aber keineswegs bedeutenden Glutball, genannt „die“ Sonne, obwohl sie nur den unbestimmten Artikel verdiene, und den ihrem Anziehungsfeld huldigenden Planeten, darunter die Erde, deren Lust und Last es sei, sich mit der Geschwindigkeit von tausend Meilen die Stunde um ihre Achse zu wälzen und, in der Sekunde zwanzig Meilen zurücklegend, die Sonne zu umkreisen, wodurch sie ihre Tage und Jahre bilde, - die ihren wohlgemerkt, denn es gebe ganz andere. Der Planet Merkur etwa, der Sonne am nächsten, vollende seinen Rundlauf in achtundzwanzig unserer Tage und drehe sich eben dabei auch einmal um sich selbst, so dass für ihn Jahr und Tag dasselbe seien. Da sehe man, was es auf sich habe mit der Zeit, - nicht mehr als mit dem Gewicht, dem ebenfalls jede Allgemeingültigkeit abgehe. Beim weißen Begleiter des Sirius zum Beispiel, einem Körper, nur dreimal größer als die Erde, befinde sich die Materie im Zustande solcher Dichtigkeit, dass ein Kubikzoll davon bei uns eine Tonne wiegen würde. Erdenstoff, unsere Felsengebirge, unser Menschenleib gar seien lockerster, leichtester Schaum dagegen.

Während die Erde sich um ihre Sonne tummelte, tummelten sie und ihr Mond sich umeinander herum, wobei unser ganzes örtliches Sonnensystem sich im Rahmen einer etwas weiteren, immer noch sehr örtlichen Sternenzusammenghörigkeit Bewegung mache und zwar keine säumige, - nicht ohne dass dieses Bezugssystem wieder, mit krasser Geschwindigkeit, sich innerhalb der Milchstraße tummele, diese aber, unsere Milchstraße, in Bezug auf ihre entfernten Schwestern mit ebenfalls unausdenkbarer Schnelle dahintreibe, wo doch, zu dem allen, diese fernsten materiellen Seinskomplexe so hurtig, dass der Flug eines Granatsplitters, verglichen mit ihrer Fahrt, nichts weiter als Stillstand sei, nach allen Richtungen auseinanderstöben, ins Nichts, wohinein sie im Sturme Raum trügen und Zeit.

Dies Ineinander- und Umeinanderkreisen und Wirbeln, dieses Sichballen von Nebeln zu Körpern, dies Brennen, Flammen, Erkalten, Zerplatzen, Zerstäuben, Stürzen und Jagen, erzeugt aus dem Nichts und das Nichts erweckend, das vielleicht besser, lieber vielleicht im Schlaf geblieben wäre und auf seinen Schlaf wieder warte, - es sei das Sein, auch Natur genannt, und es sei eins überall und in allem.

 

(Aus: Thomas Mann, „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, Drittes Buch, Fünftes Kapitel)