Ein gutes Gefühl

Der Text führt uns in die Untiefen sprachlicher Selbstüberhöhung, der Verwechslung von Aussage und Identität, von Überzeugung und Erkenntnis. Er macht deutlich: Die Wahrheit mag ein gutes Gefühl erzeugen – doch sie ist kein Besitz, kein Selbstwertnachweis und schon gar nicht immun gegen Kritik.

Bin ich, wenn ich eine wahre Aussage mache, auch wahr?

 

Ja, dann bist du ganz wahrhaftig wahr. Denn nur das ist der Sinn wahrer Aussagen. Das man sich selbst als ganz wahrhaftig begreift. Ein gutes Gefühl!

 

Geht das auch mit Aussagen, die nur wahr erscheinen?

 

Natürlich. Eigentlich ist es doch völlig egal, solange man davon überzeugt ist, im Besitz der Wahrheit zu sein.

 

Und was ist mit logischen Widersprüchen?

 

Was soll damit sein? Kuriositäten.

 

Was wäre, wenn die Wahrheit meiner Aussage keinen Einfluss auf meine eigene Wahrheit hätte?

 

Es gibt nur Wahrheit oder Unwahrheit. Vielleicht auch noch etwas dazwischen. Wenn du dich selbst als 'wahr' siehst, dann kommst du in die Wahrheitsschublade.

 

Wenn ich selbst aber auch nur wahr oder falsch bin, wie kann ich dann überhaupt noch Aussagen machen? Ich meine, zuerst mache ich eine Aussage, die wahr oder falsch ist, damit bin ich auch wahr oder falsch. Aber wahr und falsch sind doch nicht in der Lage, Aussagen zu machen. Bin ich dann verschwunden?

 

In meinen Augen bist du einfach nur wahr oder falsch.

 

Interessant. Aber auch irgendwie total belanglos. Was wäre, wenn ich eine deiner Aussagen, eine von der du fest glaubst, dass sie wahr sei, als unwahr bezeichnen würde?

 

Das solltest du nicht tun! Damit würdest du mein ganzes wahrhaftiges Selbst angreifen. Das müsste ich dir wirklich übelnehmen!

 

Du scheinst da sehr empfindlich zu sein. Mir wäre so etwas egal.

 

Wie kann das sein?

 

Fällt es dir leicht, Fehler zuzugeben?

 

Ich mache keine Fehler.

 

Dachte ich mir. Denn dann würdest du dich selbst negieren und dich vermutlich mit einem großen Knall auflösen. Da so etwas aber recht selten passiert, liegt die Sache wohl doch etwas anders. Vermutlich gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen ‚Ich mache eine falsche Aussage‘ und ‚Wenn ich eine falsche Aussage mache, bin ich falsch‘.

 

Kann ich mir nicht vorstellen.

 

Das scheint mir tatsächlich die Wahrheit zu sein.

Analyse

Der Text „Ein gutes Gefühl“ nimmt sich auf subtile Weise einem ebenso komplexen wie alten Thema an: dem Verhältnis von Wahrheit, Selbstbild und sprachlicher Behauptung. In einem scheinbar spielerischen Dialog entfaltet sich eine tiefgreifende Reflexion über die Frage: Bin ich als Sprechender selbst „wahr“, wenn ich etwas Wahres sage? Der Text verweist damit auf klassische Probleme der philosophischen Semantik, der Selbstreferenz und des sprachlich vermittelten Selbstverständnisses – ähnlich wie bei Sokrates, Wittgenstein, aber auch bei Harry Frankfurt und seiner Abhandlung über „Bullshit“.

 

1. „Wahre Aussagen machen wahr“ – oder doch nur ein Gefühl?

„Bin ich, wenn ich eine wahre Aussage mache, auch wahr?“
– Ja, dann bist du ganz wahrhaftig wahr. Denn nur das ist der Sinn wahrer Aussagen. Dass man sich selbst als ganz wahrhaftig begreift. Ein gutes Gefühl!

Bereits der Einstieg wirft ein fundamentales semantisch-ontologisches Missverständnis auf: die Verwechslung von propositionaler Wahrheit und existenzieller Wahrhaftigkeit. Während Aussagen nach logischen oder empirischen Kriterien als wahr oder falsch gelten können, ist die Wahrheit einer Person kein kategorial identisches Konzept. Doch der Text führt diese Verwechslung nicht als Fehler, sondern als psychologisch sinnvolle Illusion ein. Wer sich mit einer wahren Aussage identifiziert, fühlt sich wahrhaftig – ein Phänomen, das Frankfurt als „authentisches Selbstgefühl“ beschreiben würde.

Diese emotionale Aufladung des Wahrheitsbegriffs erinnert auch an Nietzsche, der in „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ betont, dass Wahrheit oft eher ein Gefühl von Ordnung als eine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit sei.

 

2. Die Konstruktion der Wahrheit durch Überzeugung

„Eigentlich ist es doch völlig egal, solange man davon überzeugt ist, im Besitz der Wahrheit zu sein.“

Hier nähert sich der Text der Idee von subjektiver Wahrheit oder gar konstruktivistischer Wahrheitsauffassung: Die Wahrheit wird nicht mehr durch objektive Maßstäbe validiert, sondern durch die Überzeugung, recht zu haben. Dies ist ein zentrales Thema in Debatten um Fake News, Postfaktizität und Bestätigungsfehler (confirmation bias). Der Text verweist ironisch darauf, dass das "Gefühl, recht zu haben" oft stärker wirkt als eine tatsächliche Wahrheit.

Philosophen wie Richard Rorty würden in dieser Haltung eine Form pragmatischer Wahrheit sehen: Wahr ist, was sich im Diskurs durchsetzt – auch wenn es dabei nicht um objektive Richtigkeit, sondern soziale Wirksamkeit geht.

 

3. Die Selbstauflösung durch semantische Konsequenz

„Aber wahr und falsch sind doch nicht in der Lage, Aussagen zu machen. Bin ich dann verschwunden?“

Diese Wendung im Text erinnert stark an paradoxe Selbstreferenz und die Grenze zwischen Prädikation und Ontologie. Wenn das Subjekt mit der Wahrheit seiner Aussage identifiziert wird, folgt daraus eine absurde Konsequenz: Das Subjekt wird zu einem logischen Wert (wahr/falsch) – und verliert seine Handlungsfähigkeit als Sprechender. Diese Problematik verweist auf den berühmten Kategorienfehler, wie ihn Gilbert Ryle formuliert hat: Man verwechselt Ebenen der Beschreibung.

Zudem taucht hier eine ontologische Leerstelle auf: Wenn ich als „falsch“ kategorisiert werde, kann ich dann überhaupt noch etwas sagen – oder bin ich logisch „aus dem System gefallen“?

 

4. Wahrheit als Identitätskern und narzisstische Kränkung

„Damit würdest du mein ganzes wahrhaftiges Selbst angreifen.“
„Ich mache keine Fehler.“

In diesen Sätzen offenbart der Text das narzisstische Verhältnis zum eigenen Wahrheitsanspruch: Wer sich mit einer Aussage vollständig identifiziert, erlebt jede Infragestellung als Bedrohung des Selbst. Das ist psychologisch nachvollziehbar, aber philosophisch gefährlich – denn es verwechselt kritische Infragestellung mit persönlichem Angriff.

Hier lässt sich eine Parallele zu Immanuel Kants Idee vom „vernünftigen Subjekt“ ziehen: Nur wer bereit ist, die Gültigkeit seiner Aussagen an universellen Maßstäben zu messen, kann als rational gelten. Doch im Text begegnen wir dem Gegenteil – einer narzisstischen Immunisierung gegen Irrtum. In Zeiten von Meinungsblasen und algorithmisch verstärkter Selbstbestätigung ist diese Haltung gesellschaftlich hochaktuell.

 

5. Der Unterschied zwischen Aussagefehler und Selbstfehler

„Vermutlich gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen ‚Ich mache eine falsche Aussage‘ und ‚Wenn ich eine falsche Aussage mache, bin ich falsch‘.“

Dieser Satz bringt den philosophischen Kern des Textes auf den Punkt: Es gibt einen kategorialen Unterschied zwischen dem Fehler einer Aussage und dem Fehler eines Subjekts. Der Fehler ist inhaltlich, nicht ontologisch. Aussagen können falsch sein – ohne dass das sprechende Subjekt damit aufhört zu existieren oder gar „falsch“ im ontologischen Sinne wird.

Hier liegt eine subtile, aber zentrale Kritik an ideologischen Selbstverhaftungen: Wer sich mit seinen Aussagen vollständig identifiziert, kann keine Fehler eingestehen, ohne sein Selbstverständnis zu gefährden. Philosophie dagegen – im Sinne von Sokrates’ „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – beginnt mit der Trennung von Person und Behauptung, von Glauben und Wissen.

 

Fazit: Wahrheit als Gefühl, Denken als Risiko

„Ein gutes Gefühl“ führt uns in die Untiefen sprachlicher Selbstüberhöhung, der Verwechslung von Aussage und Identität, von Überzeugung und Erkenntnis. Der Text macht deutlich: Die Wahrheit mag ein gutes Gefühl erzeugen – doch sie ist kein Besitz, kein Selbstwertnachweis und schon gar nicht immun gegen Kritik.

Gerade die Bereitschaft, eigene Aussagen als potenziell falsch zu betrachten, ist Ausdruck philosophischer Reife. Alles andere ist: ein Irrtum – oder eben nur ein Gefühl.

 

Theoretische Einordnung (Kurzüberblick)

 

Thema Philosoph:in / Werk Bezug

 

Wahrheit & Gefühl

 

Friedrich Nietzsche – Über Wahrheit und Lüge

 

Wahrheit als Metapher

 

Selbstreferenz

 

Alfred Tarski, Bertrand Russell

 

Wahrheitsparadoxien

 

Sprache & Sein

 

Ludwig Wittgenstein – PU

 

Sprachspiele und Selbstbild

 

Authentizität

 

Harry Frankfurt – On Truth, On Bullshit

 

Wahrhaftigkeit als Gefühl

 

Erkenntniskritik

 

Immanuel Kant – Kritik der reinen Vernunft

 

Subjektive vs. objektive Wahrheit