Kein Plädoyer gegen das Zitieren – sondern eine Einladung zur Reflexion über den Umgang mit Autorität, Sprache und Einstiegspunkten. Es ist ein Text, der vom Nichts handelt, ohne leer zu sein. Der etwas sagt, indem er nichts sagt – und damit in bester Tradition paradoxer Philosophie steht.
Ich möchte mit einem Zitat beginnen...
Bloß nicht!
Doch, doch. Das würde ich gern.
Auf gar keinen Fall!
Warum denn nicht?
Ok, dann beginne meinetwegen mit einem Zitat. Aber nach dem Zitat sollte dann auch Schluss sein. Und bitte kein endlos langes Zitat.
Was hast du nur gegen Zitate?
Also gut. Leg los mit deinem Zitat. Hauptsache, es ist nicht von einer berühmten Persönlichkeit.
Das ist ein Problem.
War ja klar. Wolltest dich wohl mit fremden Federn schmücken?
Unsinn. Ein Zitat lenkt die Aufmerksamkeit auf das Thema.
Was ist denn das Thema?
Das soll mittels des Zitats zum Ausdruck gebracht werden.
Nenne mir doch einfach das Thema. Dann entscheide ich, ob ich mir das Zitat auch noch anhören will.
Das macht doch gar keinen Sinn.
Vermutlich, weil das Thema so langweilig ist, dass ein anschließendes Zitat auch nichts mehr retten kann.
Das weißt du doch gar nicht!
Und, von wem ist das Zitat?
Ist doch egal. Vergessen wir es einfach.
Schade, ich hätte zu gern gewusst, worum es geht.
Analyse
Der Text „Zitate? Bloß nicht!“ beginnt mit einem klassischen Auftakt – und zerstört ihn zugleich. Die Ankündigung eines Zitats wird sofort negiert, ins Lächerliche gezogen und schließlich zum Ausgangspunkt einer komischen wie tiefgründigen Auseinandersetzung über Autorschaft, rhetorische Strategien und das Misstrauen gegenüber Autoritäten.
Im typischen Stil des Blogs entfaltet sich eine dialogische Miniatur, deren scheinbare Belanglosigkeit täuscht. Hinter dem Schlagabtausch steckt eine präzise Reflexion über das Verhältnis von Wort und Bedeutung, Einleitung und Inhalt, Originalität und Fremdreferenz. Es geht um mehr als bloßes Stilgefühl – es geht um Macht über den Diskurs.
1. Das Zitat als Machtinstrument
Schon der erste Satz – „Ich möchte mit einem Zitat beginnen...“ – ruft heftigen Widerstand hervor:
„Bloß nicht!“
„Auf gar keinen Fall!“
Diese Reaktion ist überzogen und damit humorvoll, aber sie verweist auf ein reales rhetorisches Problem: Zitate gelten oft als Einstiegsklischee in Reden, Essays oder Artikeln. Sie versprechen Bildung, Tiefe, Relevanz – sind aber häufig lediglich Autoritätsverstärker. Wer zitiert, beruft sich auf fremde Größe, will der eigenen Aussage Gewicht verleihen durch den Glanz eines „Großen Geistes“. In der postmodernen Philosophie wird diese Praxis kritisch gesehen, etwa bei Jacques Derrida, der darauf hinweist, dass jedes Zitat bereits in einem Netz von Kontextverschiebungen steckt – also nie neutral ist.
Der Widerstand gegen das Zitat im Text ist damit nicht bloß humorvoll, sondern auch epistemologisch begründet: Die Ablehnung könnte ein Aufbegehren gegen intellektuelle Abhängigkeit sein – ein Versuch, etwas Eigenes zu sagen, ohne auf fremde Federn zurückzugreifen.
2. Die Angst vor dem Anfang
Interessanterweise bleibt das angekündigte Zitat unausgesprochen. Der Text oszilliert um einen Punkt, der nie konkret benannt wird – das Zitat wird zum MacGuffin der Erzählung, wie bei Hitchcock ein bedeutungstragendes Objekt, das nie vollständig enthüllt wird. Stattdessen kreist der Dialog um das Wie des Einstiegs, nicht um das Was.
Diese Struktur erinnert an Wittgensteins Sprachspieltheorie: Der Sinn eines Ausdrucks liegt nicht in seinem Inhalt, sondern in seinem Gebrauch. Im vorliegenden Fall dient das Zitat nicht dazu, einen Inhalt zu transportieren – es ist selbst Gegenstand des Diskurses geworden. Das Einführungszitat ist nicht Anfang, sondern Hindernis des Anfangs.
3. Themenlosigkeit als Methode
Ein weiteres zentrales Motiv des Textes ist die paradoxe Weigerung, das Thema zu benennen. Der Zitatgeber behauptet, das Thema werde sich durch das Zitat erschließen:
„Das soll mittels des Zitats zum Ausdruck gebracht werden.“
Doch genau das Zitat bleibt ja aus. Die paradoxe Situation: Ein Thema soll durch ein Mittel vermittelt werden, das selbst nicht zur Verfügung gestellt wird. Das erzeugt nicht nur Spannung, sondern auch eine komische Leere. Der Dialog wird zum absurden Spiel über fehlende Inhalte, in der Tradition von Samuel Beckett oder Thomas Bernhard. Wie bei diesen Autoren bleibt unklar, worum es eigentlich geht – und genau darin liegt die Pointe: Die Struktur des Gesprächs ersetzt den Inhalt.
4. Subtile Machtkämpfe im Gespräch
Hinter dem scheinbar belanglosen Schlagabtausch verbirgt sich auch ein Dialog über Kontrolle und Dominanz. Der eine will den Einstieg bestimmen – der andere verweigert sich. Der eine will auf ein Thema hinaus – der andere torpediert jeden Versuch, es zu benennen. Kommunikation wird hier nicht als reines Verstehen, sondern als Machtspiel dargestellt. Diese Perspektive erinnert an Michel Foucaults Konzept der „Macht durch Diskurse“: Wer definiert, worüber gesprochen wird (und wie), übt Macht aus.
Dass der Zitatgeber schließlich aufgibt („Vergessen wir es einfach“) zeigt, wie erfolgreich diese strategische Verweigerung sein kann. Der absurde Triumph des Verweigerers liegt darin, dass nichts gesagt wird – und damit alles verhindert wird.
5. Ein Zitat über Zitate
Ironischerweise ist der gesamte Text ein Kommentar über Zitate ohne ein einziges zu verwenden. Er tut, was er kritisiert – und kritisiert, was er tut. Die Abwesenheit des Zitats wird performativ zur eigentlichen Aussage: Es braucht keine fremden Stimmen, um Gedanken in Gang zu setzen – und vielleicht ist das Misstrauen gegenüber Zitaten ein Plädoyer für das Unsichere, das Unfertige, das Eigene.
In einem gewissen Sinn erinnert das an Søren Kierkegaard, der oft unter Pseudonym schrieb, um gerade nicht als Autorität aufzutreten. Oder an Friedrich Nietzsche, dessen Aphorismen oft auf Zitate verzichten, um den Leser zum aktiven Mitdenken zu zwingen – statt ihn durch große Namen zu beruhigen.
Fazit: Die Absage als Einladung
„Zitate? Bloß nicht!“ ist kein Plädoyer gegen das Zitieren – sondern eine Einladung zur Reflexion über den Umgang mit Autorität, Sprache und Einstiegspunkten. Es ist ein Text, der vom Nichts handelt, ohne leer zu sein. Der etwas sagt, indem er nichts sagt – und damit in bester Tradition paradoxer Philosophie steht.
Gerade dadurch, dass das Zitat fehlt, wird seine Bedeutung umso spürbarer. Der Text spricht eine implizite Aufforderung aus, selbst zu denken, selbst zu beginnen – ohne fremde Worte als Krücke.
Weiterführende Literatur:
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Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz – über die Unmöglichkeit eines „reinen Ursprungs“
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Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses – zur Machtstruktur von Sprache
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Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode (unter Pseudonym geschrieben) – zur Autorschaft
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Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse – radikale Subjektivität ohne Zitationsballast
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Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen – über Sprachspiele und Bedeutung