Der Text führt eindrucksvoll vor Augen, dass die größten Hürden des Denkens nicht intellektueller, sondern struktureller Natur sind. Der „Bannkreis“ ist nicht einfach ein Denkfehler, der korrigiert werden kann, sondern ein systemisches Gefüge, tief eingebettet in unsere neuronale Architektur. Die Lösung liegt nicht in besserem Argumentieren, sondern in einem tieferen Verständnis der Bedingtheit unseres Denkens selbst.
Die Sonne scheint, knapp 20°C. Ein entspannter Sonntag. Was will man mehr? Die Kinder sind auf dem Spielplatz. Die Nachbarn pflegen ihre Gärten. Es läuft die Musik der Wahl.
Dann greife ich doch einfach mal ins Bücherregal. Der Gotthard Günther soll es sein. "Idee und Grundriß.." Zweite, erweiterte Auflage, 1978. Zugegeben, harte Kost. Daher einfach nur mal ein bisschen im Vorwort blättern. In der Hoffnung, dass man seinen geistigen Horizont vielleicht doch ein wenig erweitern konnte, würden sich möglicherweise neue Blickwinkel ergeben.
Und schon der dritte Absatz des Vorworts zur ersten Auflage beginnt mit: "Es liegen sehr gute, fast überzeugende Gründe vor anzunehmen, daß wir Menschen den Bannkreis des Aristotelischen identitätstheoretischen Denkens niemals überschreiten können. Unsere klassischen Denkgesetze sind der direkte Ausdruck der Funktionsweise unseres Gehirns." Das wurde geschrieben am 9. Juni, 1957.
Wenn man jetzt mal betrachtet, was derzeit an Diskussionen geführt wird, betreffend Gott oder kein Gott, freier Wille, Determinismus, Geist und Materie, Komplexität, künstliche Intelligenz, Evolution, dann kann man zu dem Schluss kommen, dass der oben zitierte Bannkreis von seiner Anziehungskraft nichts verloren hat. Es hat den Anschein, dass der Mensch eher dazu neigt, auf seinen Gegner einzuschlagen, als seinen eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Vielleicht geht es aber auch gar nicht anders? Die meisten der Kontrahenten sind doch nicht auf den Kopf gefallen.
Um den Bannkreis verlassen zu können, müsste man ihn erst einmal als solchen erkannt haben. Es ist wohl eher nicht so, dass die Menschen den Bannkreis erkannt haben und dann sagen: "Ich bin trotzdem im Recht und du im Unrecht." Nein, sie sind völlig überzeugt, im Recht zu sein und verstehen überhaupt nicht, wie man anderer Meinung sein kann. Dieser Bannkreis scheint die stärkste Fessel überhaupt für den menschlichen Geist zu sein.
Die ganzen Streitereien gehen doch letztendlich allesamt um die Beschaffenheit der Wirklichkeit. Und die Kontrahenten gehen selbstverständlich davon aus, dass es die eine Wirklichkeit gibt, und die ist für alle verbindlich. Ich denke hier sind sich die Kontrahenten einig. Im Inneren des Bannkreises gilt das identitätstheoretische Denken, die klassische Logik. Andere Begriffe, die man im Inneren des Bannkreises platzieren könnte sind: Sein, Materie, Ding, Körper.
Nur gibt es eben Phänomene, die sich schwer im Bannkreis unterbringen lassen. Es bleiben exakt zwei Möglichkeiten, mit diesen Phänomenen fertig zu werden. Entweder man betrachtet diese Phänomene als etwas Übernatürliches, außerhalb des Bannkreises Angesiedeltes, oder man ist gewillt, die unliebsamen Phänomene aufzulösen, um sie in den Bannkreis zu integrieren. Damit wird der Bannkreis zur Arena unerbittlichster Kämpfe.
Es gibt aber auch noch Menschen, die eine andere Idee vertreten. Die sagen dann: "Leute, warum streitet ihr euch? Wir leben zwar in einer gemeinsamen Wirklichkeit, aber jedes unserer Gehirne konstruiert doch daraus seine eigene Wirklichkeit, aufgrund von Signalen, die unsere Sinnesorgane empfangen und im Gehirn weiterverarbeitet werden. Und das ist doch niemals die gesamte Wirklichkeit. Das ist gefiltert, verzerrt, subjektiv. Da liegt es doch auf der Hand, dass jeder anderer Meinung sein kann." Man muss demnach Wirklichkeit als Konstrukt und wirkliche Wirklichkeit unterscheiden. Die Theorie wirkt etwas kopflastig. Schließlich existiert die konstruierte Wirklichkeit nur im Kopf. Doch erscheint uns die Wirklichkeit außerhalb des Körpers. Es fehlt die Übereinstimmung mit der Wahrnehmung. Trotzdem definitiv besser, als sich die Köpfe einzuschlagen.
Wie also kann man den Bannkreis verlassen, wenn man sich seiner gar nicht bewusst ist? Natürlich nur, falls man das überhaupt will. Schließlich geht dann das Feindbild verloren und damit für einige auch der Spaß. Nein, im Ernst. Wie soll das gehen? Die Methode ist eigentlich ganz einfach. Wenn man zwei Kontrahenten hat, die sich nicht einigen können, dann sucht man nach der gemeinsamen Grundlage. Denn es liegt vermutlich ein Isomorphieproblem vor. Das ist natürlich leicht gesagt und von innerhalb des Bannkreises nicht so einfach zu leisten. Denn der Bannkreis ist, wir erinnern uns, "..der direkte Ausdruck der Funktionsweise unseres Gehirns.." Und das ist nun einmal die höchste denkbare Hürde...
Analyse
Der Blogbeitrag „Im Bannkreis der Funktionsweise des Gehirns“ eröffnet mit einer alltäglichen Szenerie – ein sonniger Sonntag, spielende Kinder, Gartenarbeit. Inmitten dieser Idylle greift der Autor zum Werk Gotthard Günthers, einem Philosophen und Kybernetiker, dessen Gedanken das Fundament der folgenden Reflexionen bilden. Bereits in einem frühen Zitat aus dem Vorwort zur ersten Auflage seines Werks „Idee und Grundriss einer nicht-Aristotelischen Logik“ (1957) benennt Günther ein zentrales Problem: Der Mensch scheint kognitiv gefangen im „Bannkreis des identitätstheoretischen Denkens“. Diese Form der Logik – beruhend auf den aristotelischen Prinzipien von Identität, Widerspruch und ausgeschlossener Dritter – prägt nicht nur unser Denken, sondern spiegelt laut Günther direkt die Funktionsweise unseres Gehirns wider.
1. Der Bannkreis als epistemologische Grenze
Der Begriff „Bannkreis“ verweist auf eine unsichtbare Grenze: eine kognitive und logische Schranke, innerhalb derer sich menschliches Denken typischerweise bewegt. Günthers These – dass diese Grenze nicht willkürlich, sondern durch die neuronale Struktur unseres Gehirns vorgegeben sei – wirft grundlegende Fragen zur Möglichkeit objektiver Erkenntnis auf. Wenn die Logik selbst ein Produkt des biologischen Apparats ist, stellt sich unweigerlich die Frage nach der Relativität unserer Denkformen. Dies erinnert an konstruktivistische Positionen wie die von Heinz von Foerster oder Humberto Maturana, die betonen, dass Wahrnehmung nicht ein Abbilden der Welt sei, sondern ein aktives Konstruieren (vgl. Maturana/Varela: Der Baum der Erkenntnis).
2. Wirklichkeit als Konstrukt
Ein zentrales Motiv des Textes ist die Unterscheidung zwischen „wirklicher Wirklichkeit“ und konstruierter Wirklichkeit. Dieser duale Wirklichkeitsbegriff führt zu einem erkenntnistheoretischen Relativismus: Was wir als „Realität“ erleben, ist eine subjektive Interpretation sensorischer Daten. Diese Idee findet sich in verschiedenen Spielarten des radikalen Konstruktivismus, wie ihn etwa Ernst von Glasersfeld vertreten hat. Die konstruktive Natur von Wirklichkeit erklärt, warum Debatten über fundamentale Fragen wie Gott, freien Willen oder Bewusstsein oft in unauflösbaren Fronten enden – nicht, weil eine Seite „im Unrecht“ ist, sondern weil jede Seite aus ihrem logisch kohärenten Weltmodell heraus argumentiert.
3. Die Tragik des Streits
Besonders eindrücklich ist die Beobachtung, dass die Kontrahenten solcher Debatten nicht nur überzeugt sind, im Recht zu sein, sondern oft nicht einmal verstehen können, wie jemand zu einer anderen Meinung gelangen kann. Die Tragik liegt nicht in der Uneinigkeit selbst, sondern im Unvermögen, die Perspektive des Anderen überhaupt als rational denkbar zu begreifen. Der „Bannkreis“ macht also nicht nur andere Perspektiven unsichtbar, sondern immunisiert auch gegen Selbstreflexion. Hier zeigt sich die philosophische Brisanz: Der Mensch ist nicht nur begrenzt – er ist sich dieser Begrenzung oft nicht bewusst.
4. Der Ausweg: Isomorphie und gemeinsame Strukturen
Wie lässt sich dieser Bannkreis verlassen – sofern man das überhaupt will? Der Text schlägt eine erkenntnismethodische Lösung vor: Man müsse nach den isomorphen Strukturen suchen, also nach den gemeinsamen logischen oder begrifflichen Grundlagen, die beiden Positionen zugrunde liegen. Diese Idee ist nicht neu; sie erinnert etwa an die strukturalistische Erkenntnistheorie Jean Piagets oder an Ludwig Wittgensteins Spätphilosophie, der mit dem Begriff der „Familienähnlichkeiten“ versuchte, ein Denken jenseits fester Definitionen zu etablieren (Philosophische Untersuchungen, §67 ff.).
Doch wie der Text treffend feststellt, ist dies leichter gesagt als getan. Wenn die Logik selbst Teil des Problems ist – sprich: wenn unser Denken durch dieselbe Struktur gefangen bleibt, die es zu überwinden sucht – dann wird jede Transzendenz zu einem paradoxen Unterfangen. Es ist ein Versuch, den eigenen Schatten zu überholen.
5. Fazit: Zwischen Einsicht und Unmöglichkeit
Der Text führt eindrucksvoll vor Augen, dass die größten Hürden des Denkens nicht intellektueller, sondern struktureller Natur sind. Der „Bannkreis“ ist nicht einfach ein Denkfehler, der korrigiert werden kann, sondern ein systemisches Gefüge, tief eingebettet in unsere neuronale Architektur. Die Lösung liegt nicht in besserem Argumentieren, sondern in einem tieferen Verständnis der Bedingtheit unseres Denkens selbst.
Philosophie wird hier nicht als System von Wahrheiten verstanden, sondern als permanente Reflexion der eigenen Voraussetzungen – ein Denken, das sich seiner Grenzen bewusst wird, ohne in Nihilismus zu verfallen. Vielleicht, so der stille Appell des Textes, liegt im Erkennen der eigenen Begrenztheit der erste Schritt zur Freiheit.
Literaturhinweise:
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Günther, Gotthard: Idee und Grundriss einer nicht-Aristotelischen Logik, 2. Aufl., Meiner Verlag, 1978.
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Maturana, Humberto / Varela, Francisco: Der Baum der Erkenntnis, Frankfurt/M.: Scherz Verlag, 1987.
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Glasersfeld, Ernst von: Radikaler Konstruktivismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997.
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Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001.