Günther bricht nicht nur mit der aristotelischen Tradition, sondern stellt auch Hegels Dialektik in ein neues Licht. Wo Hegel selbst noch im Rahmen einer zweiwertigen Logik operiert, erkennt Günther in der spekulativen Logik einen gescheiterten, aber richtungweisenden Versuch, den Übergang zu einer transklassischen, mehrwertigen Logik zu vollziehen.
Sollte es nun im dialektischen Prozess gelingen, einen systematischen Zusammenhang der Begriffe derart zu verwirklichen, dass in ihm „Aristotelische“ und „kontra-Aristotelische“ Reflexionsmotive in gleicher Weise enthalten sind, so würde sich dadurch die ortho-thematische und die pseudo-thematische Orientation des Denkens gegenseitig aufheben. Das in einem solchen System abgebildete „Denken“ wäre a-thematisch. A-thematisches (göttliches) Denken ist aber kein Reflexionsprozess eines theorisierenden Subjekts mehr. Jedes Subjekt, das denkt, braucht ein Thema für seine Reflexion. Dieses Thema liefert ihm seinen Grund zu reflektieren. Eine solche a-thematische Reflexion kann also infolge ihrer Themalosigkeit überhaupt nicht mehr als Denken eines privaten Subjekts interpretiert werden. Ihre einzig mögliche Deutung ist, dass in ihr ein metaphysischer Realprozess beschrieben wird. Das Kennzeichen der Zweiwertigkeit, das bisher ein Index der subjektiven Reflexion, also des theoretischen Denkens war, ist damit auf das Sein selbst übergegangen. Die reelle Wirklichkeit, die von allem undialektischen Denken immer durch die Kategorien einer strikten Identitätslehre (advaita) dargestellt und verstanden wird, hat jetzt zwei echte metaphysische Komponenten. Dieselben werden in dem Absatz über das „absolut Unbedingte“ auf die folgende Weise dargestellt: „Erstens ist das Dasein an ihm selbst nur dies, in seiner Unmittelbarkeit sich aufzuheben und zugrunde zu gehen. Das Sein ist überhaupt nur das Werden zum Wesen; es ist seine wesentliche Natur, sich zum Gesetzten und zur Identität zu machen, die durch die Negation ihrer das Unmittelbare ist. Die Formbestimmungen also des Gesetztseins und es mit sich identischen Ansichseins, die Form, wodurch das unmittelbare Dasein Bedingung ist, sind ihm daher nicht äußerlich, sonders es ist diese Reflexion selbst. Zweitens, als Bedingung ist das Sein nun auch als das gesetzt, was es wesentlich ist, nämlich als Moment, somit eines anderen, und zugleich als das Ansichsein, gleichfalls eines anderen; es ist an sich aber nur durch die Negation seiner, nämlich durch den Grund und durch dessen sich aufhebende und damit voraussetzende Reflexion; das Ansichsein des Seins ist somit nur ein Gesetztes. Dies Ansichsein der Bedingung hat die zwei Seiten, einerseits ihre Wesentlichkeit als des Grundes, andererseits aber die Unmittelbarkeit ihres Daseins zu sein. Oder vielmehr beides ist dasselbe. Das Dasein ist ein Unmittelbares, aber die Unmittelbarkeit ist wesentlich das Vermittelte, nämlich durch den sich selbst aufhebenden Grund. Als diese durch das sich aufhebende Vermitteln vermittelte Unmittelbarkeit ist es zugleich das Ansichsein des Grundes und das Unbedingte desselben; aber dies Ansichsein ist zugleich selbst wieder ebenso sehr nur Moment oder Gesetztsein, denn es ist vermittelt. – Die Bedingung ist daher die ganze Form der Grundbeziehung; sie ist das vorausgesetzte Ansichsein derselben, aber damit selbst ein Gesetztsein, und ihre Unmittelbarkeit (ist) dies, sich zum Gesetztsein zu machen, sich somit von sich selbst so abzustoßen, dass sie sowohl zugrunde geht, als sie Grund ist, der sich zum Gesetztsein macht und hiermit auch zum Begründeten, und beides ist ein und dasselbe.“ (Hegel)
(Aus: Gotthard Günther, „Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik“, Felix Meiner Verlag, 1978, S. 284-285)
Analyse
In "Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik (1978)" entwickelt Gotthard Günther eine fundamentale Kritik an der klassischen, zweiwertigen Logik des abendländischen Denkens. Im Abschnitt „Der Grund im irreflexiven Sein und im reflexiven Nicht-Sein (1)“ analysiert Günther das Verhältnis zwischen thematischer Reflexion und einem transsubjektiven, a-thematischen Denken, das nicht mehr an die kognitiven Strukturen eines denkenden Subjekts gebunden ist. Dabei wird der Übergang von einem subjektzentrierten Reflexionsprozess hin zu einer Beschreibung des Seins als metaphysischem Realprozess markiert – ein Schritt, der die klassische Trennung von Denken und Sein unterläuft und letztlich auf eine neue Logik hinausläuft.
Zentral ist Günthers Unterscheidung zwischen „Aristotelischen“ und „kontra-Aristotelischen“ Reflexionsmotiven. Die erste Kategorie verweist auf das traditionelle, identitätslogische Denken, das auf festen Gegensätzen wie Identität und Negation, Subjekt und Objekt basiert. Die zweite Kategorie hingegen repräsentiert reflexive Denkbewegungen, die sich gegen diese starren Dichotomien richten und nach einer neuen, prozessualen Logik streben. In einem integrativen System, in dem beide Motive enthalten wären, würde sich der thematische Rahmen des Denkens selbst aufheben – es käme zu einem a-thematischen Denken. Dieses ist nach Günther nicht mehr als Denken eines individuellen Subjekts interpretierbar, da jedes Subjekt zur Reflexion ein Thema benötigt, das ihm einen Grund zum Denken liefert. Ohne Thema gibt es keine subjektive Motivation, keine intentional gerichtete Reflexion – somit verliert das „Denken“ hier seine psychologische Verankerung und wird zum Ausdruck eines transsubjektiven, metaphysischen Prozesses.
Dieser metaphysische Realprozess wird in Hegels Dialektik bereits angedeutet, etwa in dessen Ausführungen zum „absolut Unbedingten“. Günther zitiert Hegel aus der Wissenschaft der Logik, um zu zeigen, dass Hegel das „Sein“ selbst als Vermittlungsstruktur versteht – als etwas, das nur durch seine eigene Negation zu sich selbst kommt. In dieser Struktur wird das Sein durch den „Grund“ nicht nur vermittelt, sondern als Bedingung zugleich aufgehoben und gesetzt. Der Grund selbst ist kein festes Fundament mehr, sondern eine sich selbst aufhebende Bewegung, in der das „Dasein“ zur Erscheinung eines dynamischen Prozesses wird – eine Einheit aus Unmittelbarkeit und Vermittlung. Diese Bewegung ist selbstreflexiv, aber nicht subjektzentriert. Damit verliert die Zweiwertigkeit – bisher ein Kennzeichen der subjektiven, dichotomen Reflexion – ihren exklusiven Bezug zum denkenden Ich und wird zu einer Eigenschaft des Seins selbst.
Günthers Analyse zielt somit auf eine radikale Umwertung der klassischen Logik. Wo früher Identität, Widerspruch und das ausgeschlossene Dritte das Denken bestimmten, fordert er eine Logik, die den Übergang vom subjektiven zum a-thematischen Denken formal zu fassen vermag – eine Logik, die den metaphysischen Realprozess selbst kommunizierbar macht. In dieser Perspektive ist der Grund nicht mehr bloß epistemische Voraussetzung, sondern ontologische Bewegung. Denken wird nicht mehr als Tätigkeit eines Subjekts verstanden, sondern als Ausdruck eines umfassenden, sich selbst thematisierenden Seinsprozesses.
Damit bricht Günther nicht nur mit der aristotelischen Tradition, sondern stellt auch Hegels Dialektik in ein neues Licht. Wo Hegel selbst noch im Rahmen einer zweiwertigen Logik operiert, erkennt Günther in der spekulativen Logik einen gescheiterten, aber richtungweisenden Versuch, den Übergang zu einer transklassischen, mehrwertigen Logik zu vollziehen. In diesem Scheitern sieht er den philosophischen Auftrag der Gegenwart: Die Entwicklung einer neuen, nicht-subjektiven Logik, die sowohl reflexive als auch irreflexive Momente integriert – eine Logik des Seins, nicht des Ichs.