Die ganz große Nummer

Der Dialog entlarvt auf spielerische Weise, wie moderne Unternehmungen durch symbolische Überhöhung, Delegation von Risiko und performative Selbstbestätigung funktionieren. Die „ganz große Nummer“ ist weniger konkrete Aufgabe als soziales Skript, das Motivation stiftet, Angst kanalisiert und nach Vollzug sofort die nächste Eskalationsstufe verlangt.

Soll ich anrufen, oder rufst du an?

 

Ruf du mal an, die Nummer ist ein bisschen zu groß für mich.

 

Versteh ich. Ist halt die ganz große Nummer.

 

Ja, ist mir ein bisschen zu heftig.

 

Kein Problem. So, dann geht’s los. Konzentration. Denn hier kommt die ganz große Nummer.

 

Was ist, wenn niemand rangeht?

 

Glaub ich nicht. Das wäre schon ein starkes Stück. Da hat man sich endlich dazu durchgerungen, die ganz große Nummer zu wählen, und dann geht niemand ran? Kann ich mir nicht vorstellen.

 

Ich eigentlich auch nicht. Es sei denn...

 

Es sei denn was?

 

Es sei denn, das ist gar nicht die ganz große Nummer.

 

Jetzt mach aber mal halblang! Du weißt doch, wieviel Mühe es uns gekostet hat, die ganz große Nummer zu bekommen. Wie lange haben wir schon daran gearbeitet? Das muss einfach die ganz große Nummer sein.

 

Ok, ok. Vergiss, was ich gesagt habe. Das ist ganz bestimmt die ganz große Nummer. Und jetzt fang schon an!

 

Ok, ich muss mich konzentrieren. Und los geht’s.

 

Und?

 

Was und?

 

Geht jemand ran?

 

Geduld, Geduld... Ah, jetzt tut sich was.

 

Und, was sagt er?

 

Es ist eine Sie.

 

Was sagt sie?

 

Sie sagt: Sie haben die ganz große Nummer gewählt.

 

Gott sei Dank. Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Dann war doch nicht alles umsonst. Weißt du was? Das sollten wir feiern!

 

Das sollten wir, und das tun wir auch. Dabei könnten wir uns ja schonmal ein paar Gedanken zu einem Nachfolgeprojekt machen.

 

Das tun wir, Partner, das tun wir.

Analyse

1. Die Nummer als Projektionsfläche

Der Dialog dreht sich um den ominösen Anruf bei der „ganz großen Nummer“. Schon die Wortwahl verrät einen Doppelcharakter: Nummer ist zugleich Telefonnummer und umgangssprachlich ein spektakuläres Vorhaben. Damit tritt ein typisches Phänomen moderner Projektkultur zutage: das Aufladen formaler Kennzeichen (etwa einer Nummer) mit symbolischem Kapital.¹ Wie im Innovationsmarketing genügt das Label (MoonshotBig Thing) um kollektive Energie zu mobilisieren, noch ehe Inhalt feststeht.

 

2. Entscheidungs­­delegation und die Angst vor Größen

„Ruf du mal an, die Nummer ist ein bisschen zu groß für mich.“ Die Sprechenden verhandeln Zuständigkeit unter Unsicherheit. Niklas Luhmann beschreibt Organisationen als Systeme, die Komplexität durch Entscheidungsprämissen reduzieren.² Hier wird die Entscheidung – wenngleich trivial (einen Hörer abheben) – als risikobehaftet externalisiert: Größe wird zur psychologischen Hürde, weshalb Verantwortung delegiert wird.

 

3. Erwartungsmanagement: Zwischen Katastrophe und Triumph

Zwei entgegengesetzte Szenarien strukturieren die Spannung:

  • Worst Case: Niemand geht ran – das ganze Vorhaben wäre entwertet.

  • Best Case: Eine Stimme bestätigt, dass tatsächlich die „ganz große Nummer“ erreicht wurde.

Ulrich Beck spricht von der Risikogesellschaft, in der Bedrohung und Verheißung medial ko‑konstruiert werden.³ Der Dialog performt diese Logik: erst das Risiko des Scheiterns verleiht dem erfolgreichen Ausgang Bedeutung.

 

4. Performative Bestätigung

Die Erlösung kommt in Form einer sprachlichen Selbstreferenz: „Sie haben die ganz große Nummer gewählt.“ Damit erhält das Projekt seine Legitimation nicht durch objektive Kriterien, sondern durch eine Metakommunikation, die den Status explizit ausspricht – vergleichbar mit Austin’s „performative utterance“, das erst durch seine Äußerung eine Tatsache schafft.⁴

 

5. Ritual des Erfolgs und zyklische Dynamik

Kaum ist der Erfolg verbürgt, folgt der Ruf nach Feier und neuem Projekt. Joseph Schumpeters Modell der „kreativen Zerstörung“ beschreibt genau diese zyklische Logik: Errungenschaften werden sofort zum Sprungbrett für nächste Innovationen.⁵ Stillstand wäre kulturell suspekt; Fortschritt speist sich aus der permanenten Erzeugung immer größerer „Nummern“.

 

6. Fazit

Der Dialog entlarvt auf spielerische Weise, wie moderne Unternehmungen durch symbolische Überhöhung, Delegation von Risiko und performative Selbstbestätigung funktionieren. Die „ganz große Nummer“ ist weniger konkrete Aufgabe als soziales Skript, das Motivation stiftet, Angst kanalisiert und nach Vollzug sofort die nächste Eskalationsstufe verlangt.

 

Literaturhinweise 

  1. Boltanski, Luc & Chiapello, Ève: Le nouvel esprit du capitalisme. Gallimard 1999.

  2. Luhmann, Niklas: Organisation und Entscheidung. Westdeutscher Verlag 2000.

  3. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Suhrkamp 1986.

  4. Austin, J. L.: How to Do Things with Words. Oxford UP 1962.

  5. Schumpeter, Joseph A.: Capitalism, Socialism and Democracy. Harper 1942.