Ein Text über das Wissen – und über das Wissen um die Grenzen des Wissens. Er verbindet Alltagsrede mit tiefer philosophischer Reflexion und zeigt dabei, wie ironisch, brüchig und letztlich offen jeder Versuch bleibt, sich „auszukennen“.
Sag mal, du kennst dich doch aus?
Wo ich mich auskenne, da kenne ich mich aus. So einigermaßen. Abgesehen davon ist das eher nicht der Fall. Aber wenn du schon so fragst, ja, ich kenne mich aus.
Ich kenne nicht mal mich, und du kennst nicht nur dich, sondern du kennst dich sogar aus. Oder kennst du dich nur aus? Und du kennst dich gar nicht?
Ich würde sagen, dass ich mich mehr auskenne als kenne. Reicht dir das, um für dich als Auskenner zu gelten? Oder sollte ein richtiger Auskenner auch sich selbst kennen? Das ist hier nämlich die Frage. Gibt es dazu vielleicht irgendwelche Vorschriften? Wenn ja, so sind mir diese nicht bekannt. Man kann ja nicht alles kennen, oder sich sogar auskennen, oder beides, kennen und auskennen.
So viel Kenntnisreichtum ist schon sehr beeindruckend. Dazu bekenne ich mich ganz offen. Du bist offensichtlich ganz groß im Auskennen. Sozusagen eine echte Kenngröße. Ich denke das trifft es.
Kenngröße! Ja, das gefällt mir. Oder vielleicht auch Auskenngröße? Nein, du hast recht. Kenngröße klingt besser. Bleiben wir dabei.
Ich kenne mich mit gar nichts aus.
Oha! Mit gar nichts! Da bist du vielen weit voraus. Für die meisten ist nichts oder gar nichts nur schwer zu begreifen. Wenn du dich damit auskennst, dann kannst du dich glücklich schätzen.
Das ist doch nur so eine Redensart.
Sag das nicht! Das ist gar nicht so einfach. Manche denken, wenn es etwas gibt, dann gibt es auch nichts. Andere halten das nur für metaphysische Begrifflichkeiten.
Dann gibt es weder etwas noch nichts?
Oder es gibt nicht nur etwas und nichts.
Was soll das denn bedeuten?
Wie du schon gemerkt hast, kommt man damit nicht sehr weit. Auch wenn es im Alltag durchaus genügt.
Ich verstehe immer weniger...
Dass Problem ist, dass Raum und Zeit immer schon vorausgesetzt werden.
Ok...?
Wenn man das nicht tut, dann machen die Begriffe Sein und Nichts gar keinen Sinn mehr.
Aha...
Du verstehst?
Was ist...?
Genau! Die ‚Was ist?‘ Fragen führen in die Irre.
Ich verabschiede mich dann mal.
Ok.
Analyse
Einleitung: Wer kennt sich aus?
Im philosophischen Dialog „Kenngröße und große Kenntnis“ vom Proemial Philosophie Blog wird mit spielerischer Ironie und einem Gespür für sprachliche Doppeldeutigkeiten das Verhältnis von Kenntnis, Selbstkenntnis und Wissensparadoxien ausgelotet. Was zunächst wie ein scherzhaftes Gespräch anmutet, entwickelt sich rasch zu einer tiefgründigen Reflexion über das Wesen des Wissens, über metaphysische Unterscheidungen von „etwas“ und „nichts“ und über die Grenzen sprachlich formulierbarer Erkenntnis.
Der Text bewegt sich dabei bewusst an der Grenze zwischen Alltagsverstand und philosophischer Abstraktion – ähnlich wie es Sokrates in den platonischen Dialogen tut: Der scheinbar unwissende Fragende führt den anderen (und den Leser) durch paradoxe Fragestellungen in eine Erkenntnis, die gerade im Scheitern des Verstehens liegt.
1. Sich auskennen oder sich kennen?
„Ich würde sagen, dass ich mich mehr auskenne als kenne.“
Schon zu Beginn des Textes wird ein feiner Unterschied markiert: „Sich auskennen“ meint hier die Orientierung im Außen – in Theorien, Begriffen, vielleicht sogar in Systemen. „Sich kennen“ dagegen bezeichnet die introspektive Selbstkenntnis. Die ironische Umkehrung – dass jemand sich „auskennt“, ohne sich selbst zu kennen – spielt auf ein klassisches Problem der Philosophie an, das sich bei Descartes, Kant, aber auch Sartre findet: Der Mensch als Subjekt kann vieles wissen – außer vielleicht, was oder wer er selbst ist.
Sokrates formulierte es in seiner berühmten Maxime: „Erkenne dich selbst!“ – was impliziert, dass Selbstkenntnis schwerer zu erreichen ist als Wissen über die Welt.
2. Die Ironie der Kenngröße
„So viel Kenntnisreichtum ist schon sehr beeindruckend. (...) Du bist offensichtlich ganz groß im Auskennen. Sozusagen eine echte Kenngröße.“
Der Begriff Kenngröße stammt ursprünglich aus der Technik oder Statistik und bezeichnet eine zentrale, messbare Eigenschaft. Im Text wird er ironisch auf eine Person übertragen, die sich „auskennt“ – obwohl gar nicht klar ist, worin. Es ist eine schöne Satire auf den modernen Expertenbegriff: Wer viel weiß, gilt als Autorität – doch häufig ohne gesicherte Selbstkenntnis oder Reflexion.
Diese Reflexion erinnert an Nicholas Talebs Kritik an Expertenwissen (The Black Swan, 2007): Wissen sei oft retrospektiv konstruiert, selbstsicher vorgetragen, aber selten zukunftsfähig oder wahrhaft kritisch.
3. Nichts wissen als Wissen um das Nichts
„Ich kenne mich mit gar nichts aus.“
Der scheinbar banale Satz wird im Text zu einem erkenntnistheoretischen Highlight: Wer sich mit „gar nichts“ auskennt, berührt implizit die philosophische Idee des Nichts – ein Begriff, der unter anderem bei Martin Heidegger („Was ist das Nichts?“) eine zentrale Rolle spielt.
Heidegger schrieb 1929 in Was ist Metaphysik?, dass das Nichts nicht einfach das Gegenteil von Etwas sei, sondern erst den Raum öffne, in dem Sein überhaupt erfahrbar wird. Der Satz „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ stammt ursprünglich von Leibniz, doch Heidegger gibt ihm die existentielle Schärfe. Der Text des Proemial-Blogs nimmt diesen Gedanken spielerisch auf:
„Wenn es etwas gibt, dann gibt es auch nichts? Oder es gibt nicht nur etwas und nichts.“
Solche Formulierungen wirken auf den ersten Blick paradox, sind aber Ausdruck eines tiefen metaphysischen Problems: Ist das Nichts etwas? Und kann man sich wirklich mit „nichts“ auskennen?
4. Sprachgrenzen und Begriffskritik
„Das Problem ist, dass Raum und Zeit immer schon vorausgesetzt werden.“
Diese Aussage markiert einen Wendepunkt im Text. Die Diskussion gerät an eine Grenze: Begriffe wie „Sein“ oder „Nichts“ – und sogar das Verständnis von „Auskennen“ – setzen implizit bereits zeitliche und räumliche Strukturen voraus. Hier wird die Kritik des Immanuel Kant spürbar, der in der Kritik der reinen Vernunft argumentierte, dass Raum und Zeit keine Eigenschaften der Dinge an sich sind, sondern Formen der menschlichen Anschauung. Ohne diese Kategorien kann es kein Erkennen geben – nicht einmal von etwas oder nichts.
Der Text deutet damit an, dass jede philosophische Rede über Sein, Wissen oder gar das Nichts schon immer auf einem Vorverständnis beruht – und dass dieses Vorverständnis nicht hinterfragt werden kann, ohne den Boden des Denkens zu verlieren.
5. Der Irrweg der „Was ist...?“-Fragen
„Die ‚Was ist?‘-Fragen führen in die Irre.“
Diese metakritische Bemerkung ist fast schon programmatisch: Die klassische Frageform der Philosophie – „Was ist Wahrheit?“, „Was ist Sein?“, „Was ist der Mensch?“ – führt nicht zu stabilen Antworten, sondern in ein Netz aus Unklarheiten. Hier wird der Sprachskeptizismus Wittgensteins spürbar, besonders aus den Philosophischen Untersuchungen, wo er schreibt: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ Fragen nach dem „Wesen“ eines Begriffs führen in die Irre, wenn man Sprache als festes Abbild der Realität versteht.
Stattdessen schlägt der Text – ganz im Stil des Proemial Blogs – vor, sich vom Anspruch der Letztgültigkeit zu verabschieden. Wissen sei situativ, fragmentarisch, ironisch. Wer das akzeptiert, bewegt sich nicht im Widerspruch, sondern im Fluss des Denkens.
Fazit: Wissen als Frage, nicht als Antwort
„Kenngröße und große Kenntnis“ ist ein Text über das Wissen – und über das Wissen um die Grenzen des Wissens. Er verbindet Alltagsrede mit tiefer philosophischer Reflexion und zeigt dabei, wie ironisch, brüchig und letztlich offen jeder Versuch bleibt, sich „auszukennen“.
In einer Zeit, in der vermeintliche Experten, KI-Systeme und Big Data immer größere „Kenntnisreichtümer“ produzieren, wirkt dieser Text wie eine poetisch-philosophische Gegengeste: Wissen beginnt mit dem Zweifel, nicht mit der Gewissheit. Wer nichts weiß, weiß oft mehr als der, der sich zu sicher ist. Oder wie Sokrates sagte: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“
Literaturhinweise:
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Platon: Apologie des Sokrates
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Martin Heidegger: Was ist Metaphysik?
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Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft
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Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen
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Nicolas Taleb: The Black Swan
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Blaise Pascal: Pensées