Krummigkeit

Der Text ist eine Philosophie im Modus des Spiels – zwischen Ernst und Ironie, Klarheit und Verwirrung. Er hinterfragt unsere epistemischen Gewohnheiten, wie wir denken, lesen, schreiben, und wohin wir „gehen“. In der Tradition von Wittgenstein, Barthes und Deleuze eröffnet der Text einen Raum jenseits der Logik, in dem Sinn nicht festgelegt, sondern produziert wird – durch Krümmung, Reflexion und Spiel.

Wohin gehst du morgen?

 

Genau das wollte ich dich auch gerade fragen. Mehr oder weniger gerade. Vielleicht auch nicht so sehr gerade. Eigentlich ist Geradigkeit nicht so mein Ding. Und warum ist das so? Weil ich überhaupt nicht weiß, was Geradigkeit bedeuten soll. Geradigkeit und Krummigkeit. Lustig, dass du mich darauf ansprichst. Ich hatte dazu erst kürzlich einen sehr interessanten Artikel gelesen. „Das Wesen der Krummigkeit.“ Wusstest du, dass Krummigkeit ohne Geradigkeit gar keinen Sinn macht? Ich war schon etwas überrascht. Und das, obwohl ich mich schon seit Stunden mit dieser Thematik beschäftige. Doch das Faszinierendste am Artikel war seine Grammatik. Hatte ich schon erwähnt, dass ich in letzter Zeit beim Lesen nicht mehr auf die Inhalte achte? Früher dachte ich immer, Lesen und Verstehen, darum würde es gehen. Doch das setzt voraus, dass es etwas zu verstehen gibt. Doch das scheint mir eine eher unbegründete Annahme zu sein. Aber da ich gern lese und nicht darauf verzichten möchte, mich aber gleichzeitig nicht mit dem Inhalt beschäftigen möchte, der vielleicht manchmal einfach nicht so meinen Geschmack trifft, bin ich zu der anderen Methode übergegangen. Grammatik. Ich lese Texte nur noch aus grammatikalischer Perspektive. Das bedeutet, es geht einzig um die Struktur eines Textes. Man lässt sich gewissermaßen durch die Satzstrukturen gleiten und erfreut sich dabei an der Wortlandschaft, die mit ihren Wortlängen und Buchstabenkombinationen die Oberfläche der strukturellen Pfade bildet. Das sollte deine Frage beantworten? Ort und Zeit sind Veranschaulichungen, die dabei erst entstehen. Doch das versteht sich von selbst, denke ich. Es wäre auch zu überlegen, ob es, aufgrund der gewonnenen Freiheit, noch notwendig ist, die gewohnte Art des Lesens beizubehalten. Diese Linearität hat ja schon etwas extrem Zwanghaftes. Ich denke, es sollte jedem freigestellt sein, wie er sich durch den Text bewegt. Das scheint mir eher wie ein Spiel. Diese Linearität gibt es ja nur wegen der Sprache. Nur warum sollte man einem Text, oder generell der Schrift, die Fesseln der Sprache auferlegen? Nur bin ich dann vermutlich auch die Grammatik los. Und möglicherweise noch mehr. Wer weiß. Daher ist meine finale Antwort möglicherweise die Krummigkeit. Morgen sehen wir weiter.

Analyse

Der Text „Krummigkeit“ ist ein assoziatives, reflexives Spiel mit Sprache, Struktur und Erkenntnis. Es steht hier nicht die logische Entwicklung eines Arguments im Mittelpunkt, sondern die ironische, oft paradoxale Infragestellung philosophischer Kategorien – in diesem Fall: Geradigkeit und Krummigkeit. Der Text bewegt sich im Zwischenraum von Form und Inhalt, Lesepraxis und Sprachkritik, Linearität und Dekonstruktion. Seine scheinbare Belanglosigkeit ist selbst eine tiefsinnige Reflexion über Erkenntniswege und Wahrnehmungsmodi.

 

1. Geradigkeit vs. Krummigkeit: Zwei Weisen des Denkens

Die Eröffnung des Textes beginnt mit einer vermeintlich simplen Alltagsfrage: „Wohin gehst du morgen?“ – ein Satz, der auf Zukunft, Richtung, Planbarkeit abzielt. Die Antwort jedoch biegt augenblicklich ab: „Genau das wollte ich dich auch gerade fragen.“ Die Bewegung des Denkens kippt von Linearität zu Reflexivität, vom Ziel zur Rückkopplung. Damit wird ein zentrales Motiv eingeführt: Krummigkeit als Denkfigur, die gegen das Konzept der „Geradigkeit“ steht – welche hier nicht nur geometrisch, sondern epistemologisch und existenziell verstanden wird.

Der Erzähler behauptet: „Geradigkeit ist nicht so mein Ding.“ Was zunächst wie eine persönliche Marotte klingt, ist ein poetisch-philosophisches Bekenntnis: zum Nicht-linearen, zum Verzweigten, zum Widersprüchlichen. Diese Denkweise steht in einer Tradition, die sich etwa bei Nietzsche, Deleuze oder auch im Taoismus wiederfindet – wo das Gerade oft als Illusion oder sogar als Gewaltakt gegen die Komplexität des Lebens entlarvt wird. Nietzsche etwa verspottet im Zarathustra den „letzten Menschen“, der auf geraden Wegen wandelt und Sicherheit sucht, statt sich ins Offene zu wagen.

 

2. Lesen als Strukturgenuss: Von Inhalt zur Grammatik

Der zentrale Paradigmenwechsel im Text betrifft die Lesehaltung: Weg vom Verstehenwollen, hin zur ästhetischen Erfahrung von Struktur. „Ich lese Texte nur noch aus grammatikalischer Perspektive.“ Was hier wie eine Schrulle klingt, ist tatsächlich ein radikaler Akt der Bedeutungsverweigerung – und damit ein Angriff auf die hermeneutische Grundannahme, dass Texte etwas sagen wollen. In poststrukturalistischer Tradition – etwa bei Roland Barthes (Die Lust am Text) – wird das Lesen nicht mehr als Mittel zur Sinnerschließung verstanden, sondern als ein Spiel mit Zeichen, Rhythmen, Formen.

Die „Wortlandschaft“ aus „Wortlängen und Buchstabenkombinationen“ ersetzt die klassische Semantik. Das erinnert auch an die experimentelle Literatur eines Arno Schmidt, der Syntax und Semantik bewusst dekonstruiert, um Sprache in ihren klanglichen, formalen und materiellen Eigenschaften neu erfahrbar zu machen. Ebenso wie Barthes’ „Schrift“ ist hier nicht mehr der Autor Herr des Sinns – „Der Autor ist tot“ – sondern der Leser wird zum „Co-Produzenten“ eines Textes, der keine eindeutige Richtung mehr vorgibt.

 

3. Kritik an der Linearität: Freiheit durch Krummheit

„Diese Linearität hat ja schon etwas extrem Zwanghaftes.“ – Der Text kritisiert die Grundannahme westlicher Rationalität, dass Gedanken und Texte geradlinig verlaufen müssten, mit Anfang, Mitte und Ziel. Dies erinnert an Jacques Derridas Kritik an der „Logozentrik“: Der Vorrang des Logos (des linearen, durchsichtigen Sinns) wird hier in Frage gestellt zugunsten einer Krummheit des Denkens, die mit Ambiguität, Rückbezüglichkeit und Spiel operiert.

„Warum sollte man einem Text [...] die Fesseln der Sprache auferlegen?“ – Der Text will die Sprache selbst aus ihrem linearen Korsett befreien, was paradoxerweise bedeutet, auch die Grammatik zu opfern, die doch zuvor als Ausweg aus der inhaltlichen Bedeutsamkeit galt. Diese Einsicht ist tief philosophisch: Jede Struktur, selbst eine spielerisch gewählte wie Grammatik, bringt erneut Regeln, Einschränkungen und neue Zwanghaftigkeiten mit sich.

 

4. Krummigkeit als finale Haltung: Poetischer Agnostizismus

Am Ende wird „die Krummigkeit“ als „finale Antwort“ angeboten – nicht als dogmatische Setzung, sondern als ironisch-offene Haltung. „Morgen sehen wir weiter.“ Die Zukunft bleibt unbestimmt, weil Krummigkeit kein Ziel kennt, sondern ein Modus des Wanderns ist. Es ist eine poetische Variante des philosophischen Agnostizismus: keine letzte Wahrheit, sondern ein tastendes, bewegliches Denken, das sich der Klarheit entzieht, ohne ins Nichts abzustürzen.

Diese Denkweise steht etwa bei Gilles Deleuze und Félix Guattari im Zentrum ihrer Theorie des Rhizoms: Wissen ist nicht wie ein Baum, mit Stamm und Ästen, sondern wie ein unterirdisches Geflecht ohne Hierarchie. Das Denken in „Krummigkeit“ entspricht genau dieser Vorstellung: ungerichtet, mehrfach anschlussfähig, widerständig gegen jede finalisierende Ordnung.

 

Fazit: Denkbewegung als Sprachspiel

Der Text „Krummigkeit“ ist eine Philosophie im Modus des Spiels – zwischen Ernst und Ironie, Klarheit und Verwirrung. Er hinterfragt unsere epistemischen Gewohnheiten, wie wir denken, lesen, schreiben, und wohin wir „gehen“. Die scheinbar banale Frage „Wohin gehst du morgen?“ wird zur Einladung, den Weg selbst zu befragen: Muss er gerade sein? Muss er irgendwo hinführen? Oder ist nicht gerade das Krumme die eigentliche Bewegung des Denkens?

In der Tradition von Wittgenstein, Barthes und Deleuze eröffnet der Text einen Raum jenseits der Logik, in dem Sinn nicht festgelegt, sondern produziert wird – durch Krümmung, Reflexion und Spiel. So ist „Krummigkeit“ kein Defizit, sondern eine Strategie: des Befreiens, des Erkundens, des offenen Denkens. Morgen sehen wir weiter.