Ein humorvoller und zugleich tiefgründiger poetischer Versuch, sich der Materie zu nähern – nicht analytisch, sondern intuitiv, sprachlich spielerisch und offen.
Erst die Mate,
dann das Rie.
Wo sind sie hin? Nie sieht man sie.
Sind sie groß, oder schwer, sind sie dunkel oder hell, sauer oder nicht, wie ist’s mit Licht?
Erst die Mate,
dann das Rie.
Mate-Rie, Mate-Rie.
Die Fragen groß und größer.
Wer hat sie so gemacht?
Aufgeblasen, kurz vorm Platzen.
Wo führt das hin? Verwirrt ich bin. Und du?
Mate-Rie, Mate-Rie.
Nicht rot, nicht grün.
Willst dich nicht zeigen.
Verborgenheit. Verdeckst dich mir.
Doch hab ich Augen und Gehirn.
Kann sehn die ganze Welt.
Doch in mir drin?
Egal. Geht nur um sie.
Die große, kleine Materie.
Analyse
Das Gedicht „Erst die Mate, dann das Rie“ ist ein spielerischer wie tiefsinniger lyrischer Text, der sich mit einem der fundamentalsten Konzepte unseres Daseins auseinandersetzt: der Materie. Dabei bedient sich der Text einer ungewöhnlichen Sprache, voller Neologismen, semantischer Brüche und kindlich anmutender Wiederholungen, die zusammen eine überraschend philosophische Tiefe entfalten. Die scheinbare Einfachheit wird zum Vehikel einer existenziellen Erkundung.
1. Sprachspiel und Wortneuschöpfung
Bereits der Titel und die wiederkehrende Formel „Erst die Mate, dann das Rie“ deuten auf ein Sprachspiel hin, das den Begriff „Materie“ aufbricht, dekonstruiert und spielerisch neu zusammensetzt. Das Gedicht „entfremdet“ den Begriff – ein Verfahren, das an die literarische Technik des russischen Formalismus erinnert –, um dessen Bedeutung aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Durch diese Trennung in „Mate“ und „Rie“ entsteht ein humorvoller, fast kindlicher Klang, der gleichzeitig die Schwere und Undurchdringlichkeit des Themas kontrastiert.
2. Die Unfassbarkeit des Seins
Inhaltlich oszilliert das Gedicht zwischen Faszination und Verwirrung über die Natur der Dinge. In Zeilen wie „Wo sind sie hin? Nie sieht man sie.“ und „Verwirrt ich bin. Und du?“ offenbart sich die existentielle Ratlosigkeit gegenüber einer Welt, deren Grundlage zwar allgegenwärtig, aber im Kern unergründlich ist. Die Fragen nach Größe, Gewicht, Farbe, Geschmack und Licht („Sind sie groß, oder schwer, [...] wie ist’s mit Licht?“) stehen stellvertretend für den menschlichen Drang, das Sein mit den Sinnen zu fassen – und für das Scheitern dieses Versuchs. Materie entzieht sich einer einfachen Definition.
3. Wissenschaft und Subjektivität
Die Zeilen „Wer hat sie so gemacht? / Aufgeblasen, kurz vorm Platzen.“ könnten Anspielungen auf wissenschaftliche Modelle sein – etwa die Vorstellung vom Urknall oder von Atomen als leerem Raum. Gleichzeitig wird deutlich, dass auch wissenschaftliche Beschreibungen letztlich metaphorisch bleiben müssen, um das Unsichtbare begreifbar zu machen. Der Mensch bleibt gefangen in seiner Perspektive: „Doch hab ich Augen und Gehirn. / Kann sehn die ganze Welt. / Doch in mir drin?“ – der Erkenntnisraum reicht weit, doch das Innere, das Verborgene, bleibt mysteriös.
4. Poetisches Staunen und existentielle Tiefe
Der Refrain „Mate-Rie, Mate-Rie“ wird zur klanglichen Meditation über den zentralen Begriff. Durch Wiederholung wird die Materie selbst zur Figur, zum Gegenüber. Sie entzieht sich den Kategorien – „Nicht rot, nicht grün. / Willst dich nicht zeigen.“ – und tritt zugleich in eine poetisch-personale Beziehung zum Ich. Die letzte Zeile – „Die große, kleine Materie.“ – bringt die Spannung zwischen dem Mikroskopischen und dem Kosmischen, zwischen dem scheinbar Banalen und dem Absoluten auf den Punkt. Es ist eine Demutsgeste des lyrischen Ichs vor dem Unerklärlichen.
Fazit
„Erst die Mate, dann das Rie“ ist ein humorvoller und zugleich tiefgründiger poetischer Versuch, sich der Materie zu nähern – nicht analytisch, sondern intuitiv, sprachlich spielerisch und offen. Der Text fordert den Leser nicht zur Lösung auf, sondern zur Teilnahme am Staunen. In einer Zeit, in der alles messbar und berechenbar scheint, erinnert dieses Gedicht daran, dass die größten Fragen oft mit den einfachsten Worten gestellt werden können – und unbeantwortet bleiben dürfen.