Vorkommen und Nachkommen

Ein Text über die Unmöglichkeit des Ursprungs, die Brüchigkeit der Zeit und die paradoxe Existenz des Subjekts im Nachhinein. Durch seine verdichtete Sprache und die ständige Wiederholung des „Nach“ wird die Linearität der Rede aufgebrochen – was bleibt, ist ein schwebender, kreisender Diskurs über das Sein nach dem Sein.

Geben Sie nach?

 

Vielleicht später. Oder nachher. Je nachdem.

 

Denken Sie nach!

 

Ich denke nichts anderes als Nach. Das Nach ist meine Art zu existieren. Ja, ich bin geradezu Nach. Nennen Sie mich Nach! Ich bin ein Nach! Ich schlafe Nach und gehe Nach.

 

Sie gehen nach?

 

Nach wie vor. Doch niemals vor wie nach. Denn der Vorgang ist nicht die Art des Nach. Bevorzugt wird der Nachgang. Bei Tag und bei Nacht. Das Vor des Eiligen ist nicht die Sache des Nachfolgers. Das Vor ist gegangen. Am Ende bleibt das Nach.

 

So kommt es mir vor.

 

Nach dem Vorkommen kommt das Nachkommen.

 

Das klingt so endgültig. Was kommt nach dem Nach? Gibt es ein Nach ohne ein Vor?

 

Am Ende ist das Vor nur noch eine blasse Erinnerung. Am Ende ist alles Nach. Und wenn es vorbei ist mit der letzten Erinnerung an das Bei des Vor, dann gibt es weder Ende noch Anfang, dann gibt es nicht einmal mehr das Nach. Nichts worauf sich ein Nach noch beziehen könnte. Das Nach des Vor wird zum Es.

 

Das war es?

 

Das wird es.

Analyse

Der Text „Vorkommen und Nachkommen“ entfaltet in einem lakonischen Dialog eine dichte, fast spielerische Meditation über Temporalität, Erinnerung und das Wesen des Nachkommens. Unter der Oberfläche eines scheinbar absurden Gesprächs verbirgt sich eine tiefgreifende philosophische Reflexion über das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, von Zeitlichkeit und Identität. Die ständige Wiederholung des „Nach“ schafft eine fast rhythmische Sprache, die zwischen ironischer Übertreibung und existenzieller Schwere oszilliert.

Im Zentrum steht das Paradox der Nachzeitigkeit – die Erfahrung, immer nur im Nachhinein, im Schatten, im Rückblick zu leben, ohne echten Zugriff auf ein „Vorkommen“. Der Text bewegt sich damit im thematischen Feld von poststrukturalistischen Zeitkonzepten, Derridas Spatialisierung der Zeit, und in gewissem Sinn auch im metaphysischen Erbe von Heidegger und Blanchot.

 

1. Das „Nach“ als Existenzform

„Ich denke nichts anderes als Nach. Das Nach ist meine Art zu existieren.“

Bereits in dieser frühen Passage deutet sich eine ontologische Grundhaltung an: Der Sprecher existiert nicht unmittelbar, sondern immer im Nachhinein, im Reflexiven, im nachträglichen Bewusstsein. Dies erinnert stark an Jacques Derridas Begriff der „différance“, in dem das Sein nicht als unmittelbare Präsenz gedacht wird, sondern als ein unaufhebbarer Aufschub, als immer nachträgliches Signifikat.

Die Formulierung „Ich bin ein Nach“ ist dabei keine poetische Metapher, sondern ein radikaler Versuch, die eigene Identität aus der Bewegung des Nachgehens heraus zu bestimmen. Subjektivität erscheint hier nicht als Ursprung, sondern als ein Effekt von Verschiebung – ein Gedankengang, der in der Dekonstruktion zentral ist.

 

2. Gegen das Vor: Das Scheitern des Ursprungs

„Das Vor ist gegangen. Am Ende bleibt das Nach.“

In dieser Wendung vollzieht der Text einen Bruch mit dem klassischen, linearen Zeitverständnis: Das „Vor“ – Ursprung, Anfang, Präsenz – ist nicht mehr erreichbar. Was bleibt, ist das Nach, das Reaktive, das Spurhafte. Das Denken bewegt sich nicht mehr vorwärts, sondern rückwärts in der Wiederholung.

Hierin liegt eine deutliche Nähe zu Heideggers Unterscheidung von „Ursprung“ und „Anfang“ in Beiträge zur Philosophie, wo nicht mehr der technische Anfang zählt, sondern das, was nach ihm liegt und ihn erst denkbar macht. Der Text verweigert das Primat des „Vorkommens“ und begreift das „Nachkommen“ als eigentliche Seinsweise.

 

3. Zeit als Zerfall von Bezug

„Wenn es vorbei ist mit der letzten Erinnerung an das Bei des Vor, dann gibt es weder Ende noch Anfang, dann gibt es nicht einmal mehr das Nach.“

Dieser Satz markiert den metaphysischen Tiefpunkt des Texts: Wenn jede Bezugnahme auf das „Vor“ erlischt, dann verliert auch das „Nach“ seinen Gegenstand. Das „Nach“ existiert nur relational, nur in Bezug auf ein vorausgehendes Etwas. Wird dieses ausgelöscht, fällt auch das Nach-sein in sich zusammen – was bleibt, ist das „Es“, eine fast beunruhigend anonyme Entität.

Der Gedanke erinnert an Maurice Blanchots Idee der Entzeitlichung: In seinen Texten beschreibt Blanchot das „außerhalb der Zeit“, den Moment, in dem Erinnerung, Wiederholung und Subjektivität kollabieren – eine reine Präsenz des Unfassbaren, oder, wie hier: das Es.

 

4. Sprache als Träger des Nachlebens

„Nach dem Vorkommen kommt das Nachkommen.“

In dieser Formulierung steckt ein sprachliches Spiel mit genealogischer und zeitlicher Semantik. Das „Nachkommen“ ist wörtlich sowohl Nachfolge als auch Abstammung – eine doppelte Bewegung, die das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit auch als generative Kette entwirft. So entsteht eine Verbindung zu Walter Benjamins Begriff des „Nachlebens“ (Über den Begriff der Geschichte), in dem vergangene Ereignisse nur in ihrer nachträglichen Wiederaufführung (oder Verdrängung) lebendig bleiben.

Auch hier wird deutlich: Die Geschichte ist kein abgeschlossener Block, sondern etwas, das sich im Nachhinein, im Nachleben, im Wiedererzählen konstituiert.

 

5. Resignation oder Radikalität?

„Das war es? – Das wird es.“

Das Schlusswort des Dialogs bringt das gesamte Nachdenken (im doppelten Wortsinn) auf einen Punkt: Die Vergangenheit wird zur Zukunft. Das, was „es war“, wird das sein, was „es wird“. Der Zeitpfeil wird zirkulär, die Linearität der Historie wird gebrochen. Hier klingt ein fatalistischer Unterton mit – aber auch ein ironischer Kommentar auf die Unmöglichkeit des Fortschrittsdenkens.

Es lässt sich auch als eine Art postmoderner Affirmation lesen: Kein Pathos, kein heroischer Aufbruch, sondern ein ironisches Verharren im Nachgang – das ist der Ort des Denkens in der Spätmoderne.

 

Fazit: Der Mensch als Nachwesen

„Vorkommen und Nachkommen“ ist ein Text über die Unmöglichkeit des Ursprungs, die Brüchigkeit der Zeit und die paradoxe Existenz des Subjekts im Nachhinein. Durch seine verdichtete Sprache und die ständige Wiederholung des „Nach“ wird die Linearität der Rede aufgebrochen – was bleibt, ist ein schwebender, kreisender Diskurs über das Sein nach dem Sein.

Der Text steht in der Tradition poststrukturalistischer Dekonstruktion, heideggerscher Ontologie und benjaminscher Geschichtstheorie – gleichzeitig aber verleiht er diesen abstrakten Theorien eine spielerisch-ironische Form, die ihn auch als literarisches Miniaturstück lesenswert macht.

 

Philosophische Verweise im Überblick

 

Thema Philosoph:in / Werk Relevanz

 

Aufschub und Differenz

 

Jacques Derrida – différance

 

Subjektivität als Nachträglichkeit

 

Zeitlichkeit und Sein

 

Martin Heidegger – Beiträge zur Philosophie

 

Abwesenheit des Ursprungs

 

Erinnerung und Entzeitlichung

 

Maurice Blanchot – L’espace littéraire

 

Das Es jenseits des Nach

 

Nachleben

 

Walter Benjamin – Über den Begriff der Geschichte

 

Geschichte als Wiederkehr

 

Sprachkritik und Ironie

 

Ludwig Wittgenstein – Philosophische Untersuchungen

 

Bedeutung als Gebrauch, nicht Ursprung