Die klassische Vorstellung einer vom Denken getrennten Wirklichkeit wird als metaphysisches Konstrukt dekonstruiert. Damit öffnet sich der Weg zu einer spekulativen Logik, die nicht mehr auf der Zweiwertigkeit und der Subjekt-Objekt-Dichotomie aufruht, sondern in der Denken und Sein, Reflexion und Transzendenz strukturell ineinander verschränkt sind.
Bis hierher ist es nicht übermäßig schwer, dem Gedankengang unseres Zitates zu folgen. Nun aber führt Hegel in seiner Analyse des absolut Unbedingten einen subtilen Gesichtspunkt ein, der über die schließliche metaphysische Wendung des spekulativen Denkens entscheidet. Es ist am besten, den einschlägigen Satz noch einmal zu wiederholen. Nachdem unter anderem festgestellt worden ist, dass das Sein in der Reflexion als Ansichsein erscheint, fährt der Text fort: „Es ist an sich aber nur durch die Negation seiner, nämlich durch den Grund und durch dessen sich aufhebende und damit voraussetzende Reflexion; das Ansichsein des Seins ist Somit nur ein Gesetztes.“
Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die absolute Transzendenz des Seins (sein Ansichsein) nur Schein, also Reflexion, ist. Es ist nicht so, dass das Denken die Dinge deshalb nicht erreichen kann, weil sie ein anderes, der Reflexion absolut Fremdes sind oder weil ihr metaphysischer Modus dem der Subjektivität entgegengesetzt ist. „Ansichsein“ ist nicht der Ausdruck einer dem Denken undurchdringlichen und unzugänglichen Essenz. „Ansichsein“ ist vielmehr ein „Resultat“, d.h. ein „Gesetztes“. Es ist Resultat einer Negation und durch dieselbe als absolut objektiv und transzendent gesetzt. Es erscheint als urvordenklich nur für das naive sich orthothematisch auf seine Gegenstände richtende Denken. Für dieses letztere ist das Ansichsein in der Tat etwas, was vor allem reflektierendem Bewusstsein da ist und an dem sich das letztere nachträglich entzündet. Es ist dort die prima materia, aus der alle Wirklichkeit geschaffen worden ist, auch das Denken selbst, das relativ zu diesem Ursubstrat ein untergeordnetes a posteriori ist.
(Aus: Gotthard Günther, „Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik“, Felix Meiner Verlag, 1978, S. 286-287)
Analyse
Im vierten Abschnitt seiner Analyse des spekulativen Denkens Hegels macht Gotthard Günther eine entscheidende Wendung sichtbar: Die scheinbare Transzendenz des Seins, seine Unmittelbarkeit und sein Ansichsein, ist nicht ursprünglich gegeben, sondern ein Resultat – das Produkt einer dialektischen Bewegung. Diese Einsicht, subtil formuliert im Hegelschen Originaltext („Das Ansichsein des Seins ist somit nur ein Gesetztes“), stellt eine fundamentale Revision der metaphysischen Grundannahmen des klassischen Denkens dar. Sie verschiebt die ontologische Perspektive weg von der Idee eines an sich bestehenden, denk-unabhängigen Seins hin zu einem reflexionslogisch konstruierten Begriff von Transzendenz.
Was bedeutet das genau? Günther macht deutlich, dass das „Ansichsein“ nicht eine vorreflexive, absolut gegebene Realität beschreibt, sondern selbst nur innerhalb des Reflexionsprozesses Sinn erhält – als Negation der unmittelbaren Erscheinung. Hegels dialektische Formel, dass das Sein „an sich nur durch die Negation seiner“ ist, enthüllt das vermeintlich Ur-Substantielle als etwas Sekundäres: als Reflexionsergebnis. Damit ist das Ansichsein, das von naivem, ortho-thematischem Denken als absolut gegeben imaginiert wird, in Wahrheit ein reflexives Konstrukt.
Diese Deutung hat tiefgreifende Konsequenzen. Sie entlarvt die Vorstellung einer dem Denken unzugänglichen metaphysischen Essenz als Täuschung. Transzendenz ist nicht das Andere des Denkens, sondern sein Produkt. Die scheinbare Objektivität, mit der das Sein dem denkenden Subjekt entgegentritt, ist nicht ursprünglich, sondern durch eine vorausgehende Reflexion vermittelt – durch das, was Günther als „sich aufhebende und damit voraussetzende Reflexion“ bezeichnet. Die „prima materia“ des klassischen Denkens, verstanden als unbedingter Ursprung alles Seienden, ist in diesem Licht nichts anderes als ein Effekt des Denkens selbst.
Diese Position widerspricht fundamental der ontologischen Metaphysik, wie sie etwa in der aristotelisch-thomistischen Tradition vorherrscht: Dort gilt das Sein als absolut, das Denken als nachträglich. Günther jedoch liest Hegel im Sinne einer radikalen Reflexionsontologie: Das Sein als Ansichsein ist nicht das, was dem Denken vorausgeht, sondern das, was durch eine bestimmte Struktur des Denkens überhaupt erst erscheint.
Gerade hier setzt Günthers nicht-aristotelisches Denken an. Während die klassische Logik auf dem Prinzip der Identität und der zweiwertigen Trennung von Subjekt und Objekt beruht, zeigt sich in Hegels spekulativer Dialektik eine Möglichkeit, diese Trennung als bloß funktional und nicht ontologisch notwendig zu begreifen. Das „Ansichsein“ wird zur Chiffre eines Missverständnisses, das auf einer unreflektierten Form des Denkens basiert – einer Reflexion, die ihre eigene Setzungskraft nicht erkennt.
Die metaphysische Wende, von der Günther spricht, besteht daher in der Einsicht, dass das Denken selbst nicht lediglich abbildet oder erkennt, sondern konstituiert. Nicht das Sein ist die Voraussetzung des Denkens, sondern umgekehrt: Was wir als „Sein“ begreifen, ist bereits das Produkt eines reflexiven Vollzugs, der Negation und Unmittelbarkeit in einem dialektischen Spiel vereint. Günther bringt dies auf den Punkt, wenn er feststellt, dass das „Ansichsein“ letztlich nur als gesetzte Transzendenz verstanden werden kann – nicht als unabhängig existierende Realität, sondern als Resultat einer bestimmten Weise zu denken.
Die Konsequenz dieser Einsicht ist radikal: Die klassische Vorstellung einer vom Denken getrennten Wirklichkeit wird als metaphysisches Konstrukt dekonstruiert. Damit öffnet sich der Weg zu einer spekulativen Logik, die nicht mehr auf der Zweiwertigkeit und der Subjekt-Objekt-Dichotomie aufruht, sondern in der Denken und Sein, Reflexion und Transzendenz strukturell ineinander verschränkt sind.
Literaturverweise
-
Günther, Gotthard: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1978, S. 286–287.
-
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik, in: Werke Bd. 6–8, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.
-
Heidegger, Martin: Vom Wesen des Grundes, Klostermann Verlag, Frankfurt a. M. 1929.
-
Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1972.
-
Varela, Francisco / Maturana, Humberto: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Piper, München 1987.